Interview

Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Rousseff "Es ist ein abgekartetes Spiel"

Stand: 30.08.2016 15:23 Uhr

Das Drama um Brasiliens suspendierte Präsidentin Rousseff steht vor dem finalen Akt: Am Nachmittag beginnt die Abstimmung über die Amtsenthebung der Mitte-Links-Politikerin. Warum sie kaum noch Chancen hat, erklärt Lateinamerika-Experte Kai Michael Kenkel im Gespräch mit tagesschau24.

tagesschau24: Mit einem kämpferischen Auftritt hat sich Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff gestern im Senat verteidigt. Hat sie noch eine Chance, die notwendige Mehrheit der Senatoren hinter sich zu versammeln, um im Amt zu bleiben?

Kai Michael Kenkel: Ich glaube, Rousseff hat keine Chance Präsidentin zu bleiben. Es haben sich bereits zwei Drittel der Senatoren für ihre Amtsenthebung entschieden. Es ist ein abgekartetes Spiel und sie wird es schwer haben, sich da noch durchzusetzen. Aufgrund der politischen Lage ist es momentan auch eine relativ faktenresistente Debatte - auch in dem Sinne, dass bereits der Pferdehandel unter den Volksvertretern begonnen hat.

tagesschau24: Sie leben seit mehreren Jahren in Brasilien und kennen das Land sehr gut. Können Sie nachvollziehen, was da auf politischer Ebene geschieht?

Kenkel: Ich sehe das als Aufbäumen einer gestandenen Elite, die sich bedroht fühlt von dem Programm von Frau Rousseff. Sie verkörpert sehr stark das, was diese Opposition ablehnt. Sie ist eine starke Frau und kommt aus der Bewegung, die in den 60er-Jahren gegen das Militärregime gekämpft hat.

tagesschau24: Gibt es aus der Opposition auch so viel Widerstand, weil sie eine Frau ist?

Kenkel: Das glaube ich auf jeden Fall. Der Widerstand ist sehr viel virulenter geworden und auch aus einer sehr konservativen Ecke des Parlaments gekommen. Aber vor allen ist es die Manipulation eines verfassungsrechtlichen Verfahrens gegen eine Präsidentin, die an den Urnen die Wahl gewonnen hat. Mit diesem Ergebnis kann sich die Elite nicht abfinden.

Keine Entscheidung auf Basis von Fakten

tagesschau24: Rousseff hat sich gestern im Senat gegen Vorwürfe der Haushaltsmanipulationen verteidigt. Sie spricht von einem Putsch.

Kenkel: Die Amtsenthebung kategorisch als Putsch zu bezeichnen, ist nicht der Aufklärung zuträglich. Man befindet sich da in einer Grauzone. Die brasilianische Verfassung sieht vor, dass ein juristischer Tatbestand von dem Senat und dem Repräsentantenhaus politisch entschieden wird. Diese Entscheidung findet unter den Volksvertretern hier aber nicht auf der Basis von Fakten statt, sondern auf der Basis eines länger eingefädelten Pferdehandels, um Rousseff aus dem Amt zu heben.  

tagesschau24: Der bisherige Vizepräsident Michel Temer soll es nun als neuer Präsident Brasiliens richten. In der Finanzwelt gilt er als Hoffnungsträger. Wird er das schaffen?

Kenkel: Temer wird vorgeworfen, dass er für die internationale Finanzwelt regieren wird und nicht unbedingt für das brasilianische Volk. In Europa wird man Temer unter den Investoren sicher durchaus positiv sehen. Er wird eine Politik einleiten, die verantwortlicher und stabiler nach außen ist. Allerdings wird das brasilianische Volk vermutlich die Last tragen.  

Brasilien muss sich auf schwierige Jahre einstellen

tagesschau24: Temers Programm sieht unter anderem vor, dass viele öffentliche Einrichtungen privatisiert werden sollen, um das Staatsdefizit zu drücken. Was bedeutet das für die Menschen in Brasilien?

Kenkel: Ein Privatisierungsprogramm in diesem Sinne ist etwas, was man in einem hochentwickelten Land durchziehen kann, aber nicht in Brasilien. Das Land hat nicht den Entwicklungsstand von Deutschland und vor allem hat Brasilien eine eklatant große Ungleichheit zwischen den Bevölkerungsschichten. Es wird für die Brasilianer in den kommenden Jahren zu einer sehr viel schwierigeren Lage kommen als momentan. Intern wird es der Wirtschaft vermutlich schlechter gehen und somit die Arbeitslosigkeit ansteigen.

tagesschau24: Immer wieder gehen Menschen für Rousseff auf die Straße. Was sagt das aus? Wie viel Rückhalt hat Temer in der Bevölkerung?

Kenkel: Er hat sehr wenig Rückhalt. Momentan unterstützen ihn weniger als zehn Prozent der Brasilianer. Temer hat auch nicht die Legitimität, direkt als Person gewählt worden zu sein. Zwar wurde er als Vizepräsident gewählt, aber eben für ein Programm, für das er ja seine Unterstützung zurückgezogen hat. Man sieht jetzt auch zunehmend, dass die Menschen, die an den Demos gegen die Regierung Rousseff in den letzten beiden Jahren teilgenommen haben, es so langsam bereuen, diesen Prozess unterstützt zu haben.

Das Interview führte Kirsten Gerhard, ARD-Nachrichtenkanal tagesschau24