Nach schweren Bränden Hawaiis Tourismus-Dilemma
Auf Hawaii wüteten die schlimmsten Wald- und Buschbrände der USA seit mehr als 100 Jahren. Noch immer sind viele Menschen vermisst. Das Leid, das die Brände hinterlassen haben, verschärft auch alte Konflikte.
Dunkle, verkohlte Erde - weiße Holzkreuze erinnern an die Toten und Vermissten. Hier ist die Feuerwalze entlanggerast, die Lahaina fast vollständig zerstört hat. Wenn der Wind vom Meer herüberweht, ist der Brandgeruch auch Wochen nach dem Inferno noch immer zu riechen.
Nur einige Kilometer die Küste entlang scheint es auf den ersten Blick, als wäre die Katastrophe nie passiert: Surfer an palmengesäumten Stränden, türkisfarbenes Wasser und Schildkröten, die ab und zu den Kopf aus dem Wasser strecken.
Tourismusbehörde rät von Anreise ab
An einem dieser Strände, etwas mehr als eine halbe Stunde Autofahrt von Lahaina entfernt, schiebt Vene Chun, der Kanuausflüge anbietet, ein Auslegerkanu ins Wasser. Eigentlich passen auf das Boot fünf Paddler. Heute sind es zwei: Patti Granoff aus Dallas und ihre Freundin Melissa. Die Yoga-Lehrerin hat früher selbst auf Hawaii gelebt und darüber nachgedacht, ihre Reise zu stornieren. "Meine Freunde zu Hause haben gesagt: Du kannst nicht fahren, das ist respektlos. Aber dann haben einige, bei denen ich gebucht hatte, von sich aus angerufen und gesagt: Bitte komm, Patti." Jetzt sei sie froh, auf Maui zu sein.
Für Vene Chun ist es die erste Fahrt seit etwa einem Monat, sagt er. Direkt nach den Bränden forderten Betroffene, Touristen sollten wegbleiben. Die Tourismusbehörde rät bis heute dringend von Reisen nach West-Maui in die Touristengebiete nördlich von Lahaina ab. Hotels nehmen dort nach Angaben der Behörde keine Reservierungen entgegen. Denn in diesen Hotels entlang der Küste sind die untergebracht, die in Lahaina alles verloren haben. Sie werden abgeschirmt vor Besuchern und der Öffentlichkeit, um in Ruhe trauern zu können.
Vene Chun mit zwei US-Touristinnen am Strand.
Millionenverluste pro Tag
Die Botschaft ist angekommen - offenbar deutlicher als gehofft. Seit den Bränden sind die Buchungen auf ganz Maui eingebrochen. Flugzeuge kommen halb leer an. Noch immer warnen Airlines in ihren Apps vor Reisen auf die Insel. Die hawaiianische Tourismusbehörde schätzt, dass Mauis Wirtschaft seit den Bränden Einnahmen von elf Millionen Dollar durch den Tourismus verliert - pro Tag. Anträge auf Arbeitslosengeld seien sprunghaft angestiegen: von im Schnitt 130 pro Tag auf 2.705 in der dritten Woche nach den Bränden.
Wohl auch deshalb appelliert Josh Green, der Gouverneur von Hawaii, an Urlauber aus der ganzen Welt: Andere Teile von Maui und die übrigen Inseln seien sicher und für Besucher offen. Denn der Tourismus ist nicht nur für Maui, sondern für alle hawaiianischen Inseln der wichtigste Wirtschaftszweig.
An einigen Strandabschnitten wirkt es, als wäre die Brandkatastrophe nie passiert.
Brandschäden verschärfen alte Konflikte
Mit Lahaina ist nicht nur ein Touristenmagnet bis auf die Grundmauern abgebrannt. Als ehemalige Hauptstadt des hawaiianischen Königreichs hat der Ort für viele Hawaiianer eine tiefe Bedeutung. Für sie ist auch ein Teil ihrer Kultur unwiederbringlich zerstört.
Schon länger schwelt ein Konflikt um die Abhängigkeit vom Tourismus. Denn nirgendwo in den USA ist das Leben so teuer wie auf Hawaii: Mehr als 85 Prozent der Lebensmittel werden auf die Inseln importiert. Das treibt die Preise in die Höhe. Konflikte um Ressourcen wie Wasser verschärfen die Situation. Es trifft vor allem die, die seit Generationen auf den Inseln mitten im Pazifik leben. Deshalb werden unter den Hawaiianern Stimmen laut, die keinen Tourismus mehr auf ihren Inseln wollen.
Weiße Kreuze erinnern an die Vermissten und Gestorbenen.
Wunsch nach nachhaltigem Tourismus
Vene Chun sieht das differenzierter. Neben den Kanutouren führt er zum Beispiel Hochzeitszeremonien durch - auch für Urlauber. Gerade nach den Bränden sei es wichtig, dass nicht auch noch die wirtschaftliche Lebensgrundlage verloren gehe, sagt er. Schließlich könne man anderen nur helfen, wenn man selbst genug zum Leben habe.
Vene Chun gibt sein Wissen über die hawaiianische Kultur weiter. Seine Vorfahren hätten im Einklang mit der Natur gelebt, sagt er. Er hofft, dass die Flächenbrände und die Zerstörung Lahainas zu einer Rückbesinnung auf diese Werte führen. Sein Wunsch: Ein Tourismus, der die Kultur der Hawaiianer respektiert und schätzt. Und ihm und vielen anderen die Möglichkeit bietet, selbst zu produzieren und anzubauen, was auf den Inseln gebraucht wird. Denn nachhaltiger zu leben, nicht abhängig zu sein von einzelnen Industriezweigen - das sei nicht nur für die Hawaiianer wichtig, sondern für alle Menschen.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie am Sonntag, 10. September 2023 um 18:30 Uhr im "Weltspiegel".