Griechenland Die Flüchtlinge, die es nicht gab
Eine Gruppe von Flüchtlingen erreichte im September die Küste der griechischen Halbinsel Peloponnes. Anwohner versorgten sie. Doch für die griechischen Behörden haben die Migranten aus dem Irak die Küste nie erreicht.
Vassilis Lymberis zwängt sich durch ein Loch im Maschendrahtzaun. Dahinter befindet sich ein Stück Wiese, rechts führt ein Weg zwischen Sträuchern und vereinzelten Olivenbäumen hinunter zum Meer. "An dieser Stelle sind sie den Weg hinaufgekommen. Sie haben ihre Kleidung ausgezogen, weil sie wohl nass war", berichtet Lymberis.
Im vertrockneten Gras liegen ein paar Kleidungsstücke verstreut: schwarze Jeans, T-Shirts, ein Hemd, eine Jacke. Lymberis geht ein paar Meter den Weg Richtung Meer hinunter und kommt kurz darauf mit einer Plastiktüte in der Hand zurück: "Hier habe ich auch ein paar Lebensmittel gefunden - Kekse, Datteln und ein paar Früchte."
Tatsächlich: In der Tüte befinden sich ein paar inzwischen vergammelte Orangen und noch ungeöffnete Kekspackungen. Die Tüte stammt von einem türkischen Lebensmittelgeschäft. Der Name ist deutlich zu erkennen und sogar eine Telefonnummer ist aufgedruckt worden. Überreste eines Ereignisses, das es nie gegeben hat - zumindest laut griechischen Behörden.
Schaden am Schiff zwang Flüchtlinge an Land
Am 22. September sind ganz in der Nähe des Dorfes Vasilitsi im Süden der Halbinsel Peloponnes 25 Migranten an Land gegangen. Kurden aus dem Nordirak. Sie wollten über die Türkei nach Italien gelangen. Hergekommen sind sie mit einem kleinen weißen Segelboot, doch das hatte einen Defekt. Sie schaffen es in eine kleine Bucht, sprangen ins Wasser und schwammen an Land. Mehrere Anwohner haben die Migranten dabei beobachtet.
"Gegen vier Uhr wurde ich von einer Anwohnerin angerufen. Sie erzählte mir, dass Migranten mit einem Segelboot an einem felsigen Ufer angekommen seien", sagt Nikostelios Tomaropanagos. Er ist der Gemeindevorsteher von Vassilitsi und machte sich nach dem Anruf sofort auf den Weg:
Als ich an die Stelle kam, fand ich die Jungen hier sitzen. Die Polizei und die Küstenwache standen auch da. Ich sah, dass sie nicht einmal Trinkwasser hatten und ging ins Dorf, kaufte Wasser und Tüten mit Lebensmitteln und kam wieder zurück.
Auch Lymberis wurde von einem Anwohner, der das Geschehen beobachtet hatte, alarmiert und fuhr sofort hin. Er habe schon häufiger gehört, dass Migranten einfach so verschwinden, erzählt er. Deswegen sei er die ganze Zeit bei ihnen geblieben:
Man hat ihnen sehr schnell die Handys weggenommen. Ich hatte aber schon Fotos gemacht. Und ihnen dann heimlich mein Handy gegeben. Einer nach dem anderen hat dann mit der Familie oder Verwandten telefoniert.
Keine Migranten, kein Vorfall
Es seien auch andere Dorfbewohner vorbeigekommen, um zu helfen - mindestens 15, erinnert sich Gemeindevorsteher Tomaropanagos. Er und Lymberis sind bis nach Einbruch der Dunkelheit geblieben. Doch irgendwann seien sie aufgefordert worden zu gehen. Ein Bus sei unterwegs, um die Menschen nach Patras zu bringen, habe man ihnen gesagt.
Am nächsten Tag will sich Tomaropanagos bei der Küstenwache nach den Flüchtlingen erkundigen:
Als ich die Hafenbehörde aufsuchte, waren dort drei Beamte. Ich fragte, was mit diesen Leuten passiert sei. Irgendwann ergriff einer von ihnen das Wort und sagte mir, es gibt keine Leute und keinen Vorfall in Vasilitsi. Die anderen beiden haben gleichzeitig den Kopf gesenkt und sahen mich überhaupt nicht an."
Nur wenige Kilometer von Vasilitsi entfernt befindet sich das Städtchen Koroni - und die zuständige Küstenwache. Es öffnet ein stattlicher Herr in Uniform. Um ein Interview zu geben, fehle ihm die Befugnis. Er wisse, dass es einen Vorfall irgendwo in der Region gegeben habe, aber vielleicht könnten die Kollegen in der nächstgrößeren Stadt Kalamata weiterhelfen. Doch auch dort: Fehlanzeige. Stattdessen verweist man auf das zuständige Ministerium in Athen.
Zurück auf das Meer
Dass die Menschen hier waren, belegen neben die verschiedenen Zeugenaussagen auch Videos und Fotos. Aber was ist mit den jungen Männern aus dem Irak passiert? Über eine kurdische Community in Athen starten wir einen Aufruf in den sozialen Medien. Es meldet sich Lazo Muhamad Hasan. Er erzählt, dass er bei dem Vorfall dabei war. Die Schilderungen des 19-Jährigen decken sich exakt mit denen der Bewohner von Vasilitsi.
Lazo berichtet, dass sie nachts wieder auf ihr kaputtes Segelboot gesetzt wurden und von einem kleineren Boot aufs Meer hinausgezogen wurden. Man warte auf ein größeres Schiff, um sie nach Italien zu bringen, sei ihnen gesagt worden. Lazo erinnert sich:
Das neue Schiff war ein großes Schiff. Da waren Männer mit schwarzer Kleidung. Sie nahmen unser Geld und weitere wertvolle Sachen, die wir bei uns hatten. Als wir an Bord gegangen sind, haben wir gesehen, dass noch mehr als hundert andere Migranten auf diesem Schiff waren.
Ihm zufolge handelte es sich dabei unter anderem um Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran. Darunter auch Frauen und Kinder. Sie alle seien an verschiedenen Orten aufgegriffen und auf dieses Schiff gebracht worden. Nach einigen Stunden habe man sie in der Nähe einer Küste in kleine Rettungsboote gesetzt. Dort seien sie von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und nach Izmir gebracht worden.
Flüchtlinge in offizieller Version vor Türkei aufgegriffen
Fünf Tage nach nach dem Vorfall im griechischen Vasilitsi veröffentlicht die türkische Küstenwache Fotos und eine Pressemitteilung, in der es heißt, das 149 Migrantinnen und Migranten vor der Küste von Izmir aufgegriffen wurden. Auf einem der Fotos ist Lazo zu erkennen. Auch die Dorfbewohner von Vasilitsi haben mehrere der jungen Männer wiedererkannt.
Die griechischen Behörden nehmen zu dem Fall keine Stellung. Mitte Oktober gab es dazu sogar eine Anfrage im griechischen Parlament. Die Antwort von Migrationsminister Notis Mitarakis: "Dieser konkrete Vorfall, von dem Sie sagen, dass er auf dem Peloponnes passiert ist - ich kann darüber nichts in unseren Akten finden. Ich habe keine Kenntnis von diesem Vorfall."
Doch die Dorfbewohner von Vasilitsi wissen, was sie gesehen haben. Was danach passiert ist, können sie immer noch kaum glauben.