Parlamentswahl Gibt es in Portugal einen Rechtsruck?
Die Portugiesen wählen heute ein neues Parlament. Dabei müssen die etablierten Parteien mit harter Konkurrenz von rechts rechnen: Die "Chega"-Partei dürfte vor allem bei jungen Wählern punkten. Denn die Unzufriedenheit im Land ist groß.
Portugal erlebt stürmische Zeiten. Passend zur politischen Lage ging in den vergangenen Tagen in Teilen des Landes der heftigste Schneefall seit 2018 nieder. Heftige Windböen peitschten immer wieder Regen durch die Straßen der Hauptstadt Lissabon.
Die Stimmung ist gedrückt. Trotz guter Wirtschaftsdaten, denn der Aufschwung kommt bei vielen Menschen nicht an: Die Gehälter sind vergleichsweise niedrig, Wohnraum ist für viele daher nahezu unerschwinglich. Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen steckt in einer tiefen Krise. Die beiden großen Parteien, die sozialdemokratische ausgerichtete PS und die konservative PSD, sind angeschlagen.
Enttäuschung und Misstrauen
Sowohl die Sozialistische Partei als auch die konservative PSD, die sich seit Jahrzehnten stets als stärkste Kraft abgewechselt haben, sehen sich zudem mit Vorwürfen der Korruption und der Vetternwirtschaft konfrontiert. Sie dürften zwar auch bei dieser Wahl den Löwenanteil der knapp elf Millionen potenziellen Stimmen unter sich aufteilen, aber die Rechtsaußenpartei "Chega" (auf Deutsch: "Es reicht!") darf sich berechtigte Hoffnungen machen, deutlich von der Unzufriedenheit im Land und der öffentlichen Empörung zu profitieren.
Umfragen sehen die 2019 gegründete Partei auf Platz drei, im Vergleich zur Wahl 2022 könnte sie ihr Ergebnis mehr als verdoppeln, käme statt auf sieben womöglich auf 16 Prozent.
Der konservative Oppositionsführer Luis Montenegro, der sich berechtigte Hoffnungen darauf machen kann, mit seinem Mitte-Rechts-Wahlbündnis stärkste Kraft zu werden - allerdings ohne eigene Regierungsmehrheit - hat eine Zusammenarbeit mit "Chega" wiederholt ausgeschlossen. Aber die Partei wäre womöglich schwer zu ignorieren und sieht sich als künftige Königsmacherin.
"Portugal braucht eine Säuberung"
Die Strategie der Partei ist einfach: Laute, einfache Botschaften. "Chega"-Chef André Ventura provoziert gerne. Wer in diesen Wochen durch Portugal fährt, sieht in jeder Ortschaft riesige, gut platzierte Plakate, die den "Chega"-Frontmann zeigen, dahinter die Köpfe anderer Spitzenpolitiker, mit roter Farbe ausgestrichen, und die Parole, Portugal brauche eine "Säuberung" - die "Chega" durchaus als Drohung verstanden wissen wollen dürfte.
Die Partei präsentiert sich als die Aufräumpartei, politischer Filz ist immer der politische Filz der anderen: Gegen Elitismus, gegen das Establishment und neuerdings auch gegen Immigration - letzteres Thema verknüpft "Chega" mit Kriminalität.
Die Partei von "Chega"-Chef Ventura könnte bei der Parlamentswahl drittstärkste Kraft werden.
Spiel mit Vorurteilen
Seit Jahren greift Ventura auch gezielt teils sehr alte Ressentiments auf. Im Frühjahr 2020, auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle in Portugal, forderte er, Sinti und Roma in eine Art Zwangslager einzusperren. So sollte die angeblich ungewöhnlich hohe Ausbreitung des Virus in dieser Bevölkerungsgruppe nicht auf andere überspringen.
Dass der Rechtspopulist sich ausgerechnet diese Minderheit als Zielscheibe ausgesucht hat, überrascht die Politologin Isabel David von der Universität Lissabon nicht. Vorurteile gegen Sinti und Roma seien immer noch weit verbreitet in der portugiesischen Mehrheitsgesellschaft. Im Gegensatz zu rassistischen Haltungen gegenüber anderen Gruppen, etwa aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara, hielte in Portugal auch fast niemand damit hinter dem Berg.
In Anspielung auf den Aberglauben vor allem älterer Sinti und Roma, würden Geschäftsleute Froschfiguren vor ihren Läden oder in ihren Schaufenstern aufstellen, um Sinti und Roma so davon abzuhalten, ihre Geschäfte zu betreten. Es gebe zudem die Vorstellung, Sinti und Roma seien arbeitsscheu und würden sich selbst absondern. All diese Vorurteile seien zudem sehr alt. "Chega"-Chef Ventura nutze das sehr gezielt.
Ventil für Protestwähler
Wer mit jungen "Chega"-Anhängerinnen und -Anhängern spricht, merkt jedoch schnell, dass es ihnen nicht vor allem darum geht, sich endlich völlig ungehemmt abwertend über andere äußern zu können. Die Sozialistische Partei habe während ihrer Alleinregierung unter Führung des mittlerweile zurückgetretenen Premierministers António Costa keine linke Politik gemacht: Sie habe viel versprochen, aber wenig davon gehalten. So denken viele in Portugal.
Insbesondere junge Menschen sehen zunehmend keine Perspektive für sich in ihrer Heimat. Das scheint zum Beispiel "Chega"-Anhänger Pedro Santiago umzutreiben. Die jungen Leute gingen ins Ausland, sie wollten "eine Chance", erzählt er uns: "Wir wollen unser Land. Wir wollen unsere portugiesische Identität zurück. Und deshalb gehe ich wählen."
Höchste Auswanderungsrate in Europa
Es ist kein gefühlter Exodus. Die jüngste Ausgabe des portugiesischen "Auswanderungs-Atlasses" der Beobachtungsstelle für Auswanderung kommt zu dem Ergebnis, dass tatsächlich etwa ein Drittel der in Portugal geborenen jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 39 Jahren derzeit im Ausland lebt - mehr als 850.000 Menschen. Vor allem gut Ausgebildete suchen ihr Glück woanders, viele kehren nicht zurück.
Kein anderes europäisches Land hat eine derart hohe Auswanderungsrate, im weltweiten Vergleich liegt das kleine Portugal auf Platz 8, eine Trendwende ist nicht in Sicht. Die Folge: Die portugiesische Gesellschaft wird immer älter, sie hat eine der niedrigsten Geburtenraten innerhalb der Europäischen Union.
Auch für Menschen wie Pedro hat "Chega"-Chef André Ventura eine Erzählung. Seit 50 Jahren wählten die Portugiesen die gleichen Parteien, ohne dass sich etwas geändert hätte.
"Sich selbst ins Knie geschossen"
Vor 50 Jahren war Vasco Lourenço Teil der Gruppe von Mitgliedern des Militärs, die Portugals "Nelkenrevolution" am 25. April 1974 ausgelöst haben, den friedlichen Putsch, der der Diktatur ein Ende bereitete. Der heute 81-jährige ist der Vorsitzende der "Vereinigung 25. April". Er sagt: Die demokratischen Kräfte - rechts wie links von der Mitte - hätten enorme Fehler begangen, "sich selbst ins Knie geschossen". Das sei kein rein portugiesisches Phänomen, denn die "nicht-demokratische Rechte" sei auch in zahlreichen europäischen Ländern "auf dem Vormarsch".
Allzu große Sorgen mache er sich noch nicht, sagt Vasco Lourenço mit der Gelassenheit eines, der einst eine Diktatur mit zu Fall gebracht hat und sich seither für demokratische Werte stark macht. Die "Vereinigung 25. April" sei politisch neutral, aber nicht ideologisch neutral: "Wir verteidigen Freiheit und Demokratie und sind daher gegen alles, was sich gegen Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit richtet". Die Vereinigung unterhalte deshalb Beziehungen zu allen politischen Parteien außer "Chega", aus ihrer Sicht ein "Sammelbecken für Tunichtgute".
Die demokratischen Kräfte müssten sich gegen diese Entwicklung stemmen, sagt Vasco Lourenço und fügt hinzu: "Wer die Demokratie verteidigt, darf keine Angst haben, die Demokratie zu verteidigen."