EU-Kommissionschefin von der Leyen Die Krisen geschickt genutzt
Als sie bei ihrem Amtsantritt als Präsidentin eine geopolitische EU-Kommission ankündigte, wurde von der Leyen von vielen belächelt. Doch zwei Kriege und mehrere Krisen später hat sich ihre Rolle radikal geändert.
Um zu verstehen, was gerade in Brüssel passiert, muss man rund zehn Jahre zurückgehen. Damals sprach in der EU niemand über Geopolitik. Der Gedanke, dass Europa eines Tages die eigenen Interessen weltweit auch militärisch untermauern würde, war kein Thema. Ganz zu schweigen von der Unterstützung eines Drittlandes mit Waffen für zig Milliarden Euro.
Die EU-Kommission war vor allem ein Verwaltungsapparat, zuständig für die Regulierung des Binnenmarktes. Machtpolitik galt als eine rein nationale Angelegenheit, reserviert für die Regierungen in den Hauptstädten Europas.
Die EU hat einen historischen Sprung gemacht
"Es war im Grunde verboten, in die offiziellen Reden Wörter wie Macht, Interessen oder Machtpolitik einzubauen", erinnert sich Luuk van Middelaar, von 2009 bis 2014 Kabinettsmitglied und Redenschreiber des ersten EU-Ratspräsidenten Hermann van Rompuy. Heute ist van Middelaar Historiker und Professor an der Universität Leiden, gefeierter Buchautor und Gründer des Brüsseler Instituts für Geopolitik.
Dank seiner Erfahrungen im Maschinenraum der EU, kann der heutige Wissenschaftler wie kaum ein Anderer bewerten, welch historischen Sprung die Europäische Union gerade in der Weltpolitik macht.
"Die EU hat einen langen Weg hinter sich gebracht", erklärte van Middelaar in einem Interview mit dem Fernsehsender France 24 und erinnert daran, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensprojekt gegründet worden war. "Die EU kommt also von weit her jetzt in das Stadium, in dem sie Waffen liefert und die Waffenlieferungen von Mitgliedsländern finanziert." Damit sei die EU nicht mehr die neutrale Union, die am Spielrand steht und beim geopolitischen Spiel der Anderen zuschaut.
Mittlerweile wird die Idee von der geopolitischen EU-Kommission kaum mehr als abwegig betrachtet.
Die geopolitische Kommission
Die Frau, die geopolitisches Denken ins Vokabelheft der Europäer eingetragen hat, ist Ursula von der Leyen. Sie wolle eine "geopolitische Kommission", kündigte sie schon bei ihrem Amtsantritt als Kommissionspräsidentin Ende 2019 an. Das wurde zuerst belächelt, schien es vielen in Brüssel doch übertrieben hoch gegriffen.
Zwei Kriege und mehrere Krisen später bestreitet kaum noch jemand, dass Europa geopolitische Ziele im Blick haben sollte. Und belächelt wird die Idee von der geopolitischen Kommission auch nicht mehr so oft. Amerikanische Medien bezeichnen von der Leyen als die mächtigste Frau der Welt - keiner ihrer Vorgänger an der Spitze der Kommission wurde in Washington auch nur annähernd ernst genommen, weder Juncker noch Barroso.
Von der Leyen übernimmt Führung
Das dürfte daran liegen, dass von der Leyen Führung übernimmt und Europa mit klarem Kompass durch die globalen Krisen dirigiert. US-Präsident Joe Biden schätzt das, er sieht in ihr eine Partnerin auf Augenhöhe, endlich eine, die sich traut, für ganz Europa zu sprechen und das nicht den nationalen Hauptstädten überlässt.
"Danke, Frau Präsidentin, für Ihre Führungsstärke!", rief er der Deutschen beim ersten Besuch in Brüssel zu. Und beim G20-Gipfel in Neu-Delhi im September war es für Biden schon gar keine Frage mehr, dass er sein Kooperationsangebot an die Länder des globalen Südens zusammen mit der EU-Kommissionschefin präsentierte. Und nicht mit einzelnen Staats- und Regierungschefs, die auch aus Europa angereist waren.
Führungsstärke ist die Eigenschaft, die man am häufigsten zu hören bekommt in Brüssel, wenn die Rede von der Kommissionspräsidentin ist. Dazu kommt die Fähigkeit, schnell zu handeln. Sanktionen gegen Russland zum Beispiel ließ sie schon vorbereiten, als man in vielen Hauptstädten noch hoffte, dass Putin nicht Ernst machen würde. Und dass die Ukraine zu Europa gehöre, erklärte sie schon wenige Tage nach Kriegsbeginn und dann immer wieder. So oft, bis aus den schönen Worten, die anfangs kaum jemand ernst nahm, das Versprechen für Beitrittsverhandlungen wurde.
Zur Methode von der Leyen gehört auch, Dinge auszusprechen, die andere nur denken. Über Chinas starken Mann Xi Jinping sagte sie, er wolle schlicht und ergreifend, "dass China die mächtigste Nation der Welt wird". Aus der Einsicht entwickelte sie eine neue China-Strategie für Europa, weniger Risiken sollten die EU-Länder eingehen in ihren Wirtschaftsbeziehungen, diese allerdings auch nicht ganz kappen. "De-risk but no de-couple" lautet der eingängige Slogan, den der Bundeskanzler übernommen hat, wie einige andere Regierungschefs auch.
Kritik am Führungsanspruch
Allerdings stößt von der Leyens Führungsanspruch durchaus auf Widerstände, nicht jedem gefällt das schnelle und manchmal einsame Entscheiden im Berlaymont, dem Sitz der Kommission. Zuletzt in der Nahostpolitik. Viel zu israelfreundlich, viel zu deutsch - diese Kritik kam aus den Ländern, die den Palästinensern näher stehen.
Kritik kam aber auch von zwei Brüsseler Nachbarn des Berlaymont, zwei Männern, die sich eigentlich für Europas Außenpolitik zuständig sehen: Chefdiplomat Josep Borrell und Ratspräsident Charles Michel. Beide ließen ihre Mitarbeiter heftig gegen von der Leyens Israel-Besuch wettern.
Vielleicht, so gaben Diplomaten zu bedenken, weil sie selbst keine Einladung bekommen hatten von der israelischen Regierung. Vielleicht aber auch, weil Borrell und Michel ihre Positionen immer mühsam mit den 27 Regierungen abstimmen müssen, was in der Nahost-Politik ein aussichtsloses Unterfangen ist.
Die Kommissionspräsidentin hat es da leichter. Sie vertritt einfach die Position der Kommissionspräsidentin, und dass sie dabei in geopolitischen Dimensionen denkt, hat sie schließlich frühzeitig angekündigt. Beim Amtsantritt schon.