Krieg gegen die Ukraine "Sexuelle Gewalt ist zur Epidemie geworden"
Ob gegen Frauen, Männer oder Kinder gerichtet - Ausmaß und Brutalität von sexueller Gewalt durch russische Soldaten sind erschreckend. Laut UN wird diese Form der Gewalt systematisch eingesetzt.
Galina Tishchenko lebt in einem kleinen zweistöckigen Haus in einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Auf die Tapete hat die 60-jährige Ukrainerin ein Datum geschrieben: 19. März 2022. Einfach, damit sie diesen Tag nie vergisst, erzählt sie.
Als Ende Februar vergangenen Jahres die russischen Truppen in Richtung ukrainische Hauptstadt vorrückten, kamen sie auch in den kleinen Ort, in dem Tishchenko lebt. Sie vertrieben viele Bewohner, zerstörten Häuser und Habseligkeiten, mordeten und folterten.
Galina Tishenko wurde jüngst Opfer sexueller Gewalt von russischen Soldaten und will nicht schweigen.
Ausmaß und Brutalität sexueller Gewalt ist erschreckend
Am 19. März kamen zwei russische Soldaten, Anfang 20, auch zu ihr. "Diese Jungs kamen zu mir und trugen Sturmhauben", erzählt sie. Nur die Augen habe sie erkennen können. Die Männer bedrohten sie mit ihren Waffen, erniedrigten sie. Schließlich verschwindet einer der beiden Soldaten, der andere setzt die Tortur fort, befiehlt Tishchenko, sich zu entkleiden.
"Ich fing an zu weinen und fiel auf die Knie", erzählt sie. Sie habe gebettelt, auf ihr hohes Alter hingewiesen. "Oma, zieh Dich aus", erwiderte der russische Soldat. Dann vergewaltigte er Galina - auch mit einer Maschinenpistole und mit schmutzigen Händen. Er habe eine Granate neben sie gelegt, ihr mit dem Tod gedroht.
Das Ausmaß und die Brutalität sexueller Gewalt im Krieg ist erschreckend. Ukrainische Ermittler und internationale Organisationen versuchen, Zeugenberichte zusammenzutragen, die Kriegsverbrechen zu verfolgen.
Iryna Didenko, Leiterin der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, spricht von einem "schrecklichen Bild", das sich abzeichnet.
Viele Opfer schweigen
Schon jetzt zeichnet sich ein schreckliches Bild ab: Seit Beginn der vollen Invasion vor einem Jahr hat die für Straftaten im Zusammenhang mit sexueller Gewalt zuständige ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 156 Fälle registriert. "Hier ermitteln wir", erklärt Iryna Didenko, Leiterin der Abteilung. Es sei aber sehr wichtig, zu verstehen: "156 ist nur die Zahl der Opfer, die sich auf das Strafverfahren einlassen."
Denn viele Opfer schweigen. Dafür gibt es viele und sehr individuelle Gründe, die gelte es zu akzeptieren, betont Marta Havryshko. Die ukrainische Wissenschaftlerin forscht seit Jahren zum Thema sexuelle Gewalt in Kriegen. Nach dem 24. Februar ist sie mit ihrem Sohn nach Basel geflohen. Seither betreibt sie ihre Forschungen am dortigen Institut für Geschichte.
Dass sie jetzt auch Daten und Fakten aus ihrem Heimatland sammeln muss, macht sie traurig. "Zweifellos ist die sexuelle Gewalt nach dem 24. Februar fast zu einer 'Epidemie' in der Ukraine geworden", erzählt sie. "Wir sehen das in allen Gebieten, die vorübergehend von Russland besetzt sind."
Opfer sind Männer, Frauen - und Kinder
Opfer seien sowohl Männer und Frauen - als auch Kinder. "Das jüngste heute bekannte Opfer ist ein vierjähriges Mädchen. Ihre Eltern wurden vor ihren Augen vergewaltigt. Später wurde sie vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt", so Havryshko. Es gebe aber auch viele ältere Opfer: "Die ältesten Frauen sind über achtzig Jahre alt." Hinzu kämen eine Menge betroffener Männer, die "kastriert wurden oder verschiedene Formen genitaler Gewalt erlitten haben".
Laut den Vereinten Nationen gibt es Hinweise, dass die sexuellen Misshandlungen durch russische Soldaten in der Ukraine systematisch und als Kriegswaffe eingesetzt werden. Die ukrainische First Lady Olena Selenska kündigte an, dass sie diese Gewalttaten zum Thema auf der 67. Sitzung der UN-Frauenrechtskommission Mitte März in New York machen wolle. Es sei wichtig, dass die Welt von diesen Verbrechen erfährt, schreibt sie.
Die Folgen der Misshandlungen sind für die Opfer verheerend. "Das heißt Albträume, Flashbacks, ständiges Wiedererleben traumatischer Erfahrungen", erklärt Marta Havryshko. Dies führe wiederum zu sozialer Isolation, Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen. "Wir haben heute schon Fälle von Frauen und Männern, die nach einer Vergewaltigung Selbstmord begangen haben, und auch Fälle, in denen ihre Kinder, die die Vergewaltigung miterlebt haben, versucht haben, sich das Leben zu nehmen", so Havryshko.
Betreuung und Versorgung der Opfer fehlt
Wichtig sei professionelle Hilfe, um eine Chance zu haben, die Traumata zu verarbeiten. Doch oft sind es staatliche Ermittler, die zuerst mit den Opfern über ihre Erfahrungen sprechen. Diese sind meist nicht im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt geschult und bieten deshalb weder medizinische noch psychologische Hilfe an.
Auch im Fall von Galina Tishchenko war das so. "Niemand und nichts hat mir Hoffnung gemacht, dass ich irgendwie behandelt werden würde oder dass man mir medizinisch weiterhelfen würde", erzählt sie und beginnt zu weinen. Die medizinischen Tests auf Geschlechtskrankheiten zahlte die 60-Jährige selbst, psychologische Hilfe hat sie bis heute nicht bekommen.
Von dem teils unempathischen Vorgehen der staatlichen Ermittler weiß auch die zuständige Generalstaatsanwältin Didenko: "Leider haben wir noch kein wirksames System der staatlichen Unterstützung für Opfer und Zeugen eingeführt. Aber wir haben erkannt, dass wir es dringend brauchen." Man würde nun mit vielen Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten und gleichzeitig an einem besseren System arbeiten.
Doch auch internationale Hilfe sei gefragt - vor allen Dingen die richtige. Oft würden Online-Sitzungen mit im Ausland sitzenden Psychologen angeboten, während die Opfer nach der Besatzung nicht einmal ein Dach über dem Kopf hätten. Die Hilfe müsse passgenauer werden, meint Didenko. Noch in dieser Woche will sie eine Liste mit benötigter Hilfe erstellen, sodass internationale Partner der Ukraine bei diesem Thema besser zur Seite stehen können.
Iryna Dovhan wurde 2014 selbst von prorussischen Separatisten vergewaltigt und kämpft heute mit ihrer Organisation "Sema Ukraine" für die Rechte der Opfer sexueller Gewalt. Im <em>ARD</em>-Gespräch fordert sie die westlichen Partner dazu auf, zu verstehen, welche Verbrechen russische Soldaten verüben.
"Verbrecher sollen bestraft werden"
Bei Iryna Dovhan habe es Jahre gedauert, bis sie das Grauen verarbeitet hat. 2014 wurde sie von prorussischen Separatisten festgenommen, gefoltert und vergewaltigt. Ein Foto von ihr ging damals um die Welt. Jetzt hilft sie Frauen, die seit dem Überfall auf die Ukraine der Gewalt und dem Terror der russischen Soldaten ausgeliefert waren. Sie will ihrer neu gegründeten Organisation "Sema Ukraine" dafür sorgen, dass sich betroffene Frauen austauschen können.
"Manche Frauen sind sehr glücklich, weil sie endlich in den Kreis derer kommen, die sie verstehen, und sie können sich aussprechen. Sie können von etwas Schmerzhaftem erzählen, und es wird für alle viel einfacher." Leider, so erzählt sie, würde ihre Hilfe seit knapp einem Jahr immer mehr beansprucht werden: "Weil so viele neue Opfer zu uns stoßen. Frauen, die die Gewalt überlebt haben."
Das Problem: Keiner hier ist professionell ausgebildet; sie selbst hilft, weil sie Ähnliches wie die Frauen durchgemacht hat. Männern könne sie überhaupt nicht helfen, erzählt sie. "Wir haben nicht die Fähigkeiten, mit Männern zu arbeiten", so Dovhan. Aber man könne endlich auf andere Organisationen verweisen, die bereit sind zu helfen.
Dovhan und die Frauen, denen sie hilft, haben ein Ziel. "Wir wollen, dass diese Verbrecher bestraft werden", erzählt sie uns. Ihr ist es wichtig, dass die Welt von der Brutalität russischer Soldaten in der Ukraine erfährt. Die westlichen Partner sollen verstehen, welche Verbrechen russische Soldaten verübten.