Lage im ukrainischen Kriegsgebiet Hohe Kampfmoral - aber geschwächte Soldaten
Die ukrainische Offensive hat ihre Ziele verfehlt, sagt der Militäranalyst Gady nach einem Frontbesuch. Russland habe zwar Verluste erlitten, aber auch Kiews Militär sei geschwächt. Die ukrainischen Streitkräfte müssten nun in die Defensive gehen.
tagesschau.de: Sie waren vor Kurzem an der Front in der Ukraine - welchen Eindruck hatten Sie vom aktuellen Stand der ukrainischen Offensive?
Franz-Stefan Gady: Es scheint so, dass die ukrainische Gegenoffensive bereits im September ihren Höhepunkt überschritten hat und dass die Kampfhandlungen nach Ende dieses Monats stetig abgenommen haben. Die geographischen Ziele, die sich die Ukraine selbst gesteckt hat - die Stadt Tokmak als Zwischenziel im Süden beziehungsweise Melitopol und dann weiter der Vorstoß zum Asowschen Meer - wurden in dieser Offensive nicht erreicht.
Ein Ziel dieser Offensive war auch, das offensive Potenzial der Russen zu schwächen und gleichzeitig die eigene Kampfkraft für zukünftige Operationen aufrecht zu halten. Hier haben wir kein klares Bild über die Abnutzungsraten.
Einige Daten deuten darauf hin, dass die Ukrainer zwar einiges an Kampfkraft eingebüßt, sie es aber geschafft haben, den Russen sehr schwere Verluste hinzuzufügen. Insofern - auch wenn die geographischen Ziele der Offensive verfehlt wurden, gibt es hier noch eine weitere Dimension, in die man aber weniger Einblick hat.
Franz-Stefan Gady ist unabhängiger Analyst und Militärberater. Darüber hinaus ist er Senior Fellow am Institute for International Studies in London und Adjunct Senior Fellow am Center for New American Security in Washington DC. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den Vereinigten Staaten in Fragen der Strukturreform und der Zukunft der Kriegsführung. Feldforschungen und Beratungstätigkeiten führten ihn mehrmals in die Ukraine, nach Afghanistan und in den Irak, wo er die ukrainischen Streitkräfte, die afghanische Armee, sowie NATO-Truppen und kurdische Milizen bei verschiedenen Einsätzen begleitete. Er ist auch Reserveoffizier.
"Von Anfang an ein risikobehafteter Ansatz"
tagesschau.de: Was sind die Gründe für diese Entwicklung?
Gady: Es hat in der Eröffnungsphase einige Koordinationsschwierigkeiten gegeben. Es gab zu viele Angriffe entlang mehrerer Achsen, und das hat es der Ukraine erschwert, die Kräfte zu massieren.
Zugleich wurde die Kampfkraft der neuen Brigaden, die innerhalb von ein paar Monaten aufgestellt und dann trainiert wurden, wahrscheinlich überschätzt. Allerdings muss man auch sagen, dass das jede Armee der Welt vor große Probleme gestellt hätte. Das war von Anfang an ein risikobehafteter Ansatz, und er hat sich als undurchführbar erwiesen. Das hat das Angriffspotential erheblich reduziert.
Möglicherweise wurde die Offensive auch zu spät gestartet. Aber hier muss man immer abwägen, und jede Entscheidung hat ihre Vor- und Nachteile.
"Es gilt das Primat der Politik"
tagesschau.de: Hat die politische und militärische Führung in der Vorbereitung der Offensive die eigenen Kräfte falsch eingeschätzt?
Gady: Ich glaube, dass der hohen militärischen Führung der Ukraine sehr wohl bewusst war, zu was die ukrainischen Streitkräfte fähig sind und zu was nicht. Einige westliche Partnerländer hatten wohl ein überoptimistisches Bild der Fähigkeiten der neuen Brigaden. Aber es gilt nach wie vor auch das Primat der Politik. Das heißt, wie die Offensive dann im Großen auf strategischer Ebene durchgeführt wird, ist letztlich nach wie vor eine politische Entscheidung.
Hier könnten vielleicht einige politische Entscheidungsträger ein falsches Bild gehabt haben. Und wahrscheinlich haben diejenigen, die die ukrainischen Streitkräfte überschätzt haben, den westlichen Partnern und der breiten Öffentlichkeit eine falsche Erwartungshaltung vermittelt.
Munitionslieferungen waren "nicht ausschlaggebend"
tagesschau.de: Welche Rolle hat der Faktor Munition bei dieser Entwicklung gespielt?
Gady: Die ukrainische Armee hat nach den Problemen in der Eröffnungsphase relativ schnell wieder auf einen vorher zentrierten Artilleriekrieg umgestellt, mit dem Ziel, die russischen Streitkräfte zu zermürben und abzunutzen. Und das hat mehr Munition verlangt als die eigentliche Idee, nach erhofften Anfangserfolgen schnell in einen Bewegungskrieg übergehen zu können.
Ohne die Lieferung von amerikanischer Streumunition hätte die Offensive wahrscheinlich schon im August gestoppt werden müssen, weil der Munitionsverbrauch auf ukrainischer Seite deutlich höher war, als angenommen.
Ich möchte aber unterstreichen, dass das, was jetzt oft als Entschuldigung hervorgehoben wird, dass nicht genügend Waffen oder Munition geliefert wurden, in meinen Augen nicht ausschlaggebend war. Es geht vielmehr darum, wie diese westlichen Waffen eingesetzt wurden.
Es stimmt, dass der Westen zu langsam und zu wenig geliefert hat. Aber für das Scheitern der Offensive waren andere Faktoren wichtiger. Hier ist aufrichtige Selbstkritik für den militärischen Erfolg enorm wichtig.
"Russen sind nach wie vor ein sehr gefährlicher Gegner"
tagesschau.de: Welche Stärken haben sich aufseiten der Russen gezeigt?
Gady: Zum einen die Adaptationsfähigkeit, die den Russen ja oft abgesprochen wird. Sie haben nicht nach der klassischen russischen Verteidigungsdoktrin verteidigt. Die Russen haben sich entschlossen, sich entlang der ersten Verteidigungslinie vehement gegen die ukrainischen Angriffe zu wehren und dann sofort in Gegenangriffe überzugehen.
Das war sehr kostspielig und hat die russischen Streitkräfte sehr abgenützt. Aber es hat gleichzeitig auch den Ukrainern sehr schwer gemacht, die russischen Verteidigungslinien nach und nach zu zerschlagen und dann zu durchbrechen, um einen Bewegungskrieg überzugehen.
Auch was Verteidigungsanlagen betrifft, haben sie sich als gute Verteidiger herausgestellt und sind teilweise den ukrainischen Streitkräften überlegen. Zwei andere Punkte sind sehr wichtig: Im Gegensatz zu früheren Frontbesuchen bestimmen jetzt häufig improvisierte Kamikazedrohnen den Rhythmus des Gefechtsfeldes. Diese Art von Waffen kann Russland sehr effektiv in größerer Quantität als die Ukraine einsetzen.
Und dazu kommt die überlegene Stärke der Russen im Bereich elektronischer Kampfführung, weil unter anderem die Voraussetzung ist, diese selbstgebauten Kampfdrohnen einzusetzen.
Und schließlich können die Russen weiterhin immer wieder Reserven an die Front schieben und hier zu größeren Gegenattacken übergehen. Die Kämpfe um Awdijiwka, aber auch in der Gegend Kupjansk und Kremina zeigen: Wenn man den Russen eine Verschnaufpause gibt, sind sie nach wie vor ein sehr gefährlicher Gegner mit Potenzial für limitierte offensive Operationen.
"Man sieht den Krieg den Menschen an"
tagesschau.de: Wie wirkt sich das auf die Soldaten selbst aus?
Gady: Ich glaube, dass Kampfmoral und die Kampfkraft noch sehr hoch sind. Aber es ist klar, dass das offensive Potenzial der ukrainischen Streitkräfte deutlich geschwächt wurde. Es gibt große Defizite in den einzelnen Infanterieverbänden, die für Angriffe benutzt werden.
Viele Soldaten sind übermüdet, viele sind verwundet, in Gefangenschaft geraten oder gefallen. Man sieht den Krieg den Menschen nach mehreren Monaten der Gegenoffensive an.
Deshalb halte ich es für dringend notwendig, an den meisten Teilen der Front so früh wie möglich in die strategische Defensive überzugehen und gleichzeitig das nächste Jahr dazu benutzen, ein Aufbaujahr einzuleiten. Unter diesem Motto sollte 2024 für die ukrainischen Streitkräfte stehen.
"Der ad-hoc-Ansatz muss aufhören"
tagesschau.de: Was bedeutet Aufbaujahr?
Gady: Aufbaujahr bedeutet erst einmal, dass die einzelnen Einheiten gut trainiert und ausgebildet werden. Es bedeutet, dass Training und Ausbildung systematischer von westlichen Partnern unterstützt werden und dies synchronisiert geschieht.
Das große Problem ist, dass die einzelnen Länder ihre einzelnen Trainingsprogramme durchgeführt haben, und das hat auch die Kampfkraft der einzelnen Brigaden negativ beeinflusst. Eine Brigade oder Bataillon wurde vielleicht in Deutschland ausgebildet, ein anderes Bataillon von Polen ausgebildet und ein anderes wieder von Ländern im Baltikum. Dieser ad-hoc-Ansatz muss aufhören, die Ausbildung muss gut und besser koordiniert werden.
Dann müssen die einzelnen Einheiten wieder aufgefrischt werden durch zusätzliche Reservisten, damit sie wieder die volle Sollstärke erreichen. Ausrüstung und Waffensysteme müssen instandgesetzt werden, und dann muss genug Munition herangeschafft werden für weitere etwaige offensive Operationen. Hier werden die Russen in den ersten Monaten 2024 wahrscheinlich einen Vorteil haben.
Der Widerspruch wird sein: Militärisch braucht die Ukraine die Defensive. Die Frage ist, ob die politische Führung das auch so sieht. Aus militärischer Sicht muss andererseits aber auch der Druck auf die russischen Streitkräfte aufrechterhalten bleiben. Und das könnte durch eine effektive Kampagne zum Beispiel gegen die Krim geschehen und möglicherweise kleinere offensive Operationen entlang mehrerer Frontabschnitte.
Eine weitere Großoffensive durchzuführen, wird für die Ukraine im kommenden Jahr aber unter den derzeitigen militärischen Rahmenbedingungen sehr schwierig.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de