Umkämpfte Hafenstadt Mariupol Ungewissheit über Fluchtkorridor
Eigentlich wollte Russland am Morgen einen Fluchtkorridor aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol öffnen. Nach Angaben der Stadtverwaltung ist das aber noch nicht geschehen. Zugleich wächst die Sorge vor neuen Angriffen.
Seit Wochen sind in der umkämpften Hafenstadt Mariupol im Süden der Ukraine Zehntausende Zivilisten von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Hilfsorganisationen beschreiben die humanitäre Situation in der Stadt als katastrophal. Nachdem Evakuierungsversuche in den vergangenen Wochen mehrfach gescheitert waren, soll heute ein neuer Versuch unternommen werden. Doch auch der könnte scheitern.
Das russische Verteidigungsministerium hatte gestern erklärt, man werde einen humanitären Korridor von Mariupol ins 220 Kilometer entfernte Saporischschja heute um 09.00 Uhr MESZ "wieder öffnen". Die Maßnahme folge einem "persönlichen Appell" von Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an Kreml-Chef Wladimir Putin. Sie solle "unter direkter Beteiligung von Vertretern des UN-Flüchtlingskommissars und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)" umgesetzt werden.
Fluchtwege angeblich noch geschlossen
Das IKRK beabsichtigt, in 54 Bussen zahlreiche Menschen aus Mariupol herauszuholen. Doch bei der Umsetzung des Plans gab es offenbar schon gestern Abend Probleme: Der Konvoi sei bei Berdjansk, etwa 75 Kilometer westlich von Mariupol, von russischen Soldaten aufgehalten und nicht bis in die Stadt vorgelassen worden, teilte die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk mit. Russische Streitkräfte hätten zudem zwölf ukrainische Busse gestoppt, die mit Hilfsgütern beladen auf dem Weg von Melitopol nach Mariupol gewesen seien. Die Soldaten hätten 14 Tonnen Lebensmittel und Medikamente beschlagnahmt, erklärte sie.
Heute nun besteht Ungewissheit darüber, ob und in welchem Umfang die Evakuierungsaktion tatsächlich stattfinden kann. Zwar teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit, um 09.00 Uhr MESZ habe eine Feuerpause begonnen, die die Evakuierung von Einwohnern ermöglichen solle. Von den Behörden in Mariupol hieß es jedoch, dass die Fluchtwege noch geschlossen seien. Lediglich in der nahe gelegenen und von russischen Truppen besetzten Stadt Berdjansk habe die Evakuierung von Menschen begonnen, die aus Mariupol dorthin geflüchtet waren. Sie bestiegen demnach Busse für die Fahrt in das von ukrainischen Behörden kontrollierte Saporischschja.
Ein Sprecher des IKRK teilte mit, man habe weiterhin die Hoffnung, Tausende Zivilisten aus Mariupol holen zu können. "Wir haben die Erlaubnis, uns heute in Bewegung zu setzen, und wir sind auf dem Weg nach Mariupol", sagte er. Allerdings habe man keine Erlaubnis von russischer Seite erhalten, humanitäre Hilfsgüter in die Stadt zu bringen.
Neue russische Offensiven im Osten und Süden erwartet
Die Hoffnung auf eine gelungene Evakuierungsaktion wird zudem durch die Furcht vor noch heftigeren Attacken der russischen Armee gedämpft. Nach Einschätzung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj müssen sich Mariupol und weitere Orte im Osten und Süden des Landes auf genau dieses Szenario einstellen. Dass die russische Regierung angekündigt habe, die Angriffe auf Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurückzufahren, sei "Teil ihrer Taktik", sagte Selenskyj in der Nacht in einer Rede. Die russische Armee wolle sich auf andere wichtige Gebiete konzentrieren, "in denen es schwierig für uns sein kann". Im Donbass, in Mariupol und der Gegend um Charkiw seien "gewaltige Angriffe" zu befürchten.
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, Russland positioniere seine Einheiten in der Ukraine neu und versuche "höchstwahrscheinlich", seinen Einsatz im Donbass zu verstärken. Zu erwarten seien "Offensivaktionen, die noch mehr Leid verursachen werden". Ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidungsministeriums warnte, dass sich Russland nun auf den Donbass konzentriere, könne zu einem "noch länger anhaltenden Konflikt" führen.
Ukraine meldet Rückeroberungen
Ukrainische Truppen haben nach eigenen Angaben elf Siedlungen im südukrainischen Gebiet Cherson zurückerobert. Beim Vormarsch im Norden der Region sei ihnen auch schwere russische Militärtechnik in die Hände gefallen, darunter Panzer vom Typ T-64, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Dank des Erfolgs könnten die Einwohnerinnen und Einwohner nun Lebensmittel und Medikamente erhalten. Die Zivilbevölkerung habe die ukrainischen Kräfte freudig begrüßt.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs konnten die russischen Einheiten an keiner Stelle im Land Geländegewinne verzeichnen. Die ostukrainische Großstadt Charkiw werde weiter beschossen, ein Durchbruchsversuch nahe der Stadt Isjum sei aber gescheitert. Auch ein russischer Vorstoß im südukrainischen Gebiet Mykolajiw sei nicht erfolgreich gewesen. Im Norden hätten sich einige russische Einheiten zurückgezogen.
Lage in Kiew entspannt sich offenbar etwas
Die Lage in der Hauptstadt Kiew hat sich nach Angaben des Stadtkommandanten etwas entspannt. "Dank der standhaften Verteidigung und der heldenhaften Aktionen unserer Truppen verbessert sich die Situation rund um die Stadt", hieß es in einer Mitteilung von General Mykola Schyrnow. In den Außenbezirken der Stadt werde aber weiterhin gekämpft.
Gleichzeitig warnte NATO-Chef Stoltenberg vor einem anhaltenden Druck Russlands auf Kiew und andere Städte im Norden des Landes. Nach Einschätzung der US-Regierung ist die ukrainische Hauptstadt weiter stark durch russische Luftangriffe gefährdet. Russlands Gerede von Deeskalation sei "schöne Rhetorik", sagte ein hochrangiger Pentagon-Vertreter. "Aber es bedeutet nicht, dass die Bedrohung aus der Luft weniger wird." In den vergangenen 24 Stunden sei die Zahl der Lufteinsätze deutlich erhöht worden.