Angriffe in der Ostukraine "Man weiß nicht, wer von wo schießt"
Ein Keller, 27 Bewohner: In Sjewjerodonezk versuchen sich die Menschen vor dem Beschuss in Sicherheit zu bringen - und doch wurden erneut Zivilisten getötet. Aber der Gouverneur zeigt sich auch optimistisch.
Aus Ziegelsteinen haben sich die Frauen eine kleine Feuerstelle gebaut. Nur wenige Schritte von ihrem Schutzraum in Sjewjerodonezk entfernt. In dem Keller leben 27 Menschen. In kleinen Grüppchen kochen sie an der Feuerstelle draußen vor der Tür. In zwei Töpfen blubbert hier eine dünne Suppe. Immer wieder müssen die Frauen in den Keller zurückrennen.
In Sjewjerodonezk in der Region Luhansk lebten einst mehr als 100.000 Einwohner. Heute sind die meisten geflohen.
Die Lehrerin Tamara Nesterenko kniet gerade über den Töpfen, als wieder ein Geschoss einschlägt. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. "Am Anfang war es noch möglich zu fliehen. Aber wir dachten, dass der Krieg nicht lange dauert - so wie 2014. Aber wo können wir jetzt noch hin?" Die Straßen würden beschossen, also warteten sie ab. Aber es höre nicht auf: "Man weiß nicht, wer von wo schießt."
"Es tut weh zu sehen, wie meine Heimatstadt zerstört wird"
Wieder kracht es irgendwo in Sjewjerodonezk. Manchmal sind die Einschläge ganz nah. Vier Menschen wurden laut ukrainischen Angaben in den vergangenen 24 Stunden getötet. Schon 2014 war hier gekämpft worden - aber kein Vergleich zu dem, was die Einwohner heute erleben.
In den vergangenen Jahren entwickelte sich die Stadt. Viele Flüchtlinge aus den von Russland kontrollierten sogenannten Volksrepubliken zogen her. Die Front war damals zwar nur etwa 40 Kilometer entfernt - aber das reichte, um den Krieg zu vergessen.
Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sagt der ARD, er sei in Sjewjerodonezk geboren. "Es tut weh zu sehen, wie meine Heimatstadt zerstört wird." Aber er habe gesehen, was man in den vergangenen Jahren geschafft habe. Es habe große Fortschritte bei Krankenhäusern und Kindergärten gegeben. "Deshalb bin ich mir sicher, dass wir nach unserem Sieg innerhalb von fünf bis sieben Jahren alles wieder neu aufbauen werden", sagt er.
Gebäude des Asowstal-Werks sollen abgerissen werden
Doch aktuell weiß niemand, wie lang die ukrainischen Truppen ihre Stellungen in der Region noch halten können. Gouverneur Hajdaj hatte in der Vergangenheit gewarnt, aus Sjewjerodonezk könne ein zweites Mariupol werden. In der Hafenstadt am Asowschen Meer haben russische Truppen nun die Kontrolle übernommen.
Der Machthaber der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, lädt dort zu einer Pressetour: Der Hafen solle als Umschlagplatz für Baumaterialien dienen, denn davon werde es viel geben. Die im Hafen gebaute Logistik sei sehr wichtig, das Gelände werde jetzt entmint. "Alles entwickelt sich nach unseren anfangs gesetzten Zielen."
Die Gebäude des Asowstal-Werks sollen abgerissen werden. Nach russischen Angaben haben sich bisher mehr als die Hälfte der dort verschanzten ukrainischen Soldaten ergeben. Die Ukraine äußerte sich bisher nicht dazu.