Ein ukrainischer Soldat startet bei Bachmut eine Drohne.
interview

Krieg gegen die Ukraine "Krieg wird nicht allein durch Abwehr gewonnen"

Stand: 09.04.2024 08:44 Uhr

Die Ukraine habe zwar die jüngsten Angriffsversuche Russlands abgewehrt, sagt der Militäranalyst Beleskow. Doch der Munitionsmangel zwinge zur Defensive - und schaffe eine Stimmung, die zusätzliche Rekrutierung erschwere.

tagesschau.de: Die russischen Streitkräfte rücken an der Front vor. Wie bewerten Sie die aktuelle militärische Lage?

Mykola Beleskow: Russland hat die Initiative. Russland versucht, an mehreren Frontabschnitten vorzurücken. Wir haben die Situation bei Awdijwka gesehen.

tagesschau.de: Nach monatelangen heftigen Kämpfen haben sich ukrainische Truppen im Februar aus der völlig zerstörten Stadt zurückgezogen.

Beleskow: Jetzt sehen wir die Situation in der Nähe von Tschassiw Jar. Zugleich hat dieser Vorstoß nicht den Charakter einer klassischen Offensive. Es ist ein sehr langsamer Vormarsch. Das kostet die Russische Föderation sehr viel.

Trotz eines sehr ernsten Mangels an klassischen Raketen- und Artilleriewaffen hält die Ukraine die Front und fügt Russland Schaden zu. Die Einschätzung des ukrainischen Präsidenten, dass es gelungen ist, neue russische Angriffsversuche abzuwehren, ist also gerechtfertigt.

Wo könnte eine russische Frühjahrsoffensive beginnen?

V.Golod/K.Rusetska, ARD Kiew, Weltspiegel, 07.04.2024 18:30 Uhr

"Wieder ein Stellungskrieg"

tagesschau.de: In welcher Phase befindet sich dieser Krieg?

Beleskow: Im Moment sehen wir, dass das, was im November 2023 begann, nämlich die Versuche, an mehreren Frontabschnitten gleichzeitig anzugreifen, Russland nicht das erwartete Ergebnis gebracht hat. Alles entwickelt sich wieder zu einem Stellungskrieg.

Die Verluste sind furchtbar. Erinnern wir uns daran, dass Russland in der Nähe von Awdijiwka bis zu 17.000 Tote und mehr als 20.000 Verwundete zu beklagen hatte.

Mykola Bielieskov
Zur Person
Mykola Beleskow ist Analyst beim staatlichen ukrainischen National Institute for Strategic Studies (NISS) und bei der Nichtregierungsorganisation Come Back Alive, die mittels Crowdfunding der ukrainischen Armee technische Ausrüstung verschafft. Zuvor arbeitete er beim Institute of World Policy und der Politik-Nachrichtenseite glavcom.ua.

"Die Ukraine hat gerade nicht den Luxus der Wahl"

tagesschau.de: Was sind die Ursachen dafür, dass Russland die Initiative ergreifen konnte?

Beleskow: Weil es sich um einen Abnutzungskrieg handelt. Ein Abnutzungskrieg ist ein Ressourcenkrieg. Das heißt: Wer mehr Ressourcen hat, hat die Möglichkeit zu wählen. Die Ukraine hat gerade nicht den Luxus der Wahl. Wir sind zur Verteidigung übergegangen. Das ist die Form des Krieges, die wir jetzt führen. 

Russland kann wählen, es kann sich verteidigen, es kann angreifen. Die Russen haben sich für den Angriff entschieden, weil sie mehr Munition für Raketensysteme und Artillerie haben. Außerdem setzen sie, wie wir sehen, zunehmend Lenkflugkörper verschiedener Typen ein. Allein im ersten Quartal dieses Jahres wurden nach offiziellen Angaben mehr als 4.000 Lenkflugkörper entlang der Frontlinie eingesetzt.

"Das ist eine Art Improvisation"

tagesschau.de: Russland greift die Energieinfrastruktur der Ukraine massiv an. Was braucht die Ukraine derzeit besonders dringend?

Beleskow: Für jede Strategie, ob defensiv oder offensiv, brauchen wir auf zwei entscheidenden Gebieten mehr Unterstützung. Das erste ist die Flug- und Raketenabwehr. Denn wir sehen, wie Russland aktiv klassische Luftangriffsfähigkeiten einsetzt, wie sie mit Fliegerbomben improvisieren, sie modernisieren, wie sie die Produktion von Raketenwaffen erhöht haben - leider. Das heißt, wir brauchen Flugabwehr - aber eine Flugabwehr, die sowohl das Land als auch die Bodengruppe, die kämpft, abdeckt.

Das zweite Gebiet ist die Munition für die Raketentruppen und die Artillerie. Denn es ist schwierig, klassische bemannte Flugzeuge in großer Zahl einzusetzen. Sowohl für die Russen als auch für uns geht es jetzt um einen Raketen- und Artilleriekrieg. Wir brauchen Munition. Natürlich haben wir diese Knappheit jetzt durch den Einsatz von Kamikaze-Drohnen mit FPV-Technologie und verschiedenen Abwürfen kompensiert. 

tagesschau.de: Also durch den kreativen Einsatz von Drohnen, die mit einem Sprengsatz ausgestattet sind und durch Kameratechnik ferngesteuert werden.

Beleskow: Das ist aber eine Art Improvisation, es kann kein vollständiger Ersatz sein. Vor allem, wenn Russland sowohl über klassische Raketen- und Artilleriewaffen als auch über FPV-Drohnen verfügt. Wie wir sehen, zielen die internationalen Initiativen auf die Luftverteidigung, die Raketenabwehr und die Raketen- und Artilleriewaffen ab.

Modernisierte Gleitbomben und ein Dilemma

tagesschau.de: Sie haben modernisierte Fliegerbomben angesprochen. Was macht die russischen Gleitbomben so gefährlich?

Beleskow: Das ist eines der Beispiele für die Anpassung auf dem Schlachtfeld. Als die Russen merkten, dass sie keine Fliegerbomben verwenden konnten, haben sie beschlossen, ihre Fliegerbomben zu modernisieren. Es handelt sich zwar noch nicht um moderne amerikanische oder französische Munition, aber sie sind dennoch einen Schritt weiter. Denn im Vergleich zu den herkömmlichen Fliegerbomben, erhöht sich die Reichweite beim Hinzufügen eines bestimmten Kontroll- und Korrekturmoduls während des Fluges auf mindestens vierzig Kilometer.

So können die Russen außerhalb der Reichweite der meisten ukrainischen Luftabwehrsysteme operieren und haben so die Möglichkeit anzugreifen. Und das ist ein sehr großes Problem, denn wir können diese Munition nicht abschießen.

tagesschau.de: Also kann sich die Ukraine gar nicht dagegen schützen?

Beleskow: Das Maximum, was wir tun können, ist, die Trägersysteme abzuschießen. Aber um Trägersysteme abzuschießen, brauchen wir Flugabwehrsysteme mit einer Reichweite von mehr als 50 Kilometern. Das ist in der Tat nur ein System vom Typ SAMP/T oder "Patriot", das wir nur in begrenzter Zahl haben. Das ist eines der Hauptprobleme.

tagesschau.de: Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge brauche die Ukraine 25 "Patriot"-Systeme, um den eigenen Luftraum gegen russische Raketenangriffe zu schützen. Aktuell muss sich die Ukraine also jeden Tag entscheiden, was sie schützt.

Beleskow: Das zentrale Dilemma ist - und wir stehen ja gerade in Kiew: Schützt du die großen Städte oder die eigentlichen Bodentruppen? Und dieses Dilemma nutzt Russland leider gegen die Ukraine aus.

"Brauchen nicht weniger als 200.000 neue Soldaten"

tagesschau.de: Es fehlt der Ukraine nicht nur an Waffen, sondern auch an Soldaten. Das Einberufungsalter wurde von 27 auf 25 Jahre herabgesenkt. Wie viele neue Männer braucht die Armee?

Beleskow: Die Russen ziehen jeden Monat 30.000 bis 40.000 ein. Natürlich sind ihre Verluste viel höher, aber selbst wenn wir zum Beispiel mit der Hälfte davon rechnen, mit 15.000 bis 20.000, dann müssen wir von mindestens 200.000 Menschen ausgehen.

Das sind grobe Schätzungen, wenn wir die Situation von der anderen Seite aus betrachten und die unterschiedlichen Philosophien der Kriegsführung berücksichtigen. Also, vielleicht braucht die ukrainische Armee keine 500.000, aber definitiv nicht weniger als 200.000 neue Soldaten.

"Mehr Munition - mehr Rekrutierung"

tagesschau.de: Die Mobilisierung ist ein Problem. Was muss das neue Gesetz, an dem aktuell gearbeitet wird, Ihrer Meinung nach leisten?

Beleskow: Es gibt vier Schlüsselfaktoren. Es handelt sich dabei um Fragen der Ausbildung, der Versorgung, des Managements und der möglichen Demobilisierung. Wenn der Staat nichts unternimmt, um diese Probleme zu verbessern, wird es nicht ausreichen, einfach die Altersgrenze zu senken. 

Die Menschen verstehen außerdem, dass wir einen ernsten Mangel an schweren Waffen und Munition haben. Und sie verstehen, dass sie das mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit kompensieren müssen. Das macht es schwieriger, Menschen zu gewinnen. Wenn unsere Partner also Fortschritte bei der Mobilisierung sehen wollen, müssen sie verstehen, dass es leichter sein wird, Menschen für die Sicherheits- und Verteidigungskräfte zu rekrutieren, je mehr Munition und schwere Waffen die Ukraine hat.

Neuer Ruf nach "Taurus"-Raketen

tagesschau.de: Deutschland unterstützt die Ukraine so sehr, wie kein anderer Staat in der EU. In welchen Bereichen kann Deutschland Ihrer Meinung nach mehr tun?

Beleskow: Das positive Bild, das es hier von Deutschland und den Deutschen gibt, wird durch die Entscheidung einer Person, des Bundeskanzlers, ein wenig getrübt. Leider ist das so. Wir schätzen beispielsweise die Lieferung von verschiedenen Flugabwehrsystemen, wie "Gepard", IRIS-T, "Patriot" und der zugehörigen Munition. Aber der Krieg wird nicht allein durch die Abwehr gewonnen. Früher oder später wird man für eine erfolgreiche Verteidigung also auch die "Taurus"-Marschflugkörper liefern müssen.

Ansonsten sehen die angekündigten Pläne für die Produktion von Munition im Prinzip recht überzeugend aus. Auch die Tatsache, dass in diesem Jahr bis zu acht Milliarden Euro für Hilfe ausgegeben werden, ist ein großes Plus. Was wir bedenken müssen, ist, dass Kriege nicht allein durch Verteidigung gewonnen werden. Und selbst um die Frontlinie zu stabilisieren, muss man in einer gewissen Tiefe zuschlagen. Und dafür braucht man entsprechende Raketen mit einer Reichweite von 200 und mehr Kilometern.

 Das Gespräch führte Vassili Golod, ARD Kiew

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. April 2024 um 06:25 Uhr.