Kriegsverbrechen in der Ukraine Tausende Fälle, schwierige Aufarbeitung
Justizminister Buschmann will der Ukraine helfen, Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Doch das ist schwierig: Aktuell gibt es bereits über 42.000 Verfahren - und jede Woche kommen etliche neue dazu.
Butscha - der Ort steht wie kein anderer für begangene Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Nach dem Abzug der russischen Truppen im April waren die Verbrechen direkt sichtbar für die Öffentlichkeit. Erschossene Zivilisten säumten die Straßen, wurden in Autos gefunden, mit denen sie fliehen wollten. Männer - gefoltert und erschossen - gefunden mit auf dem Rücken gefesselten Händen.
Doch das waren nicht die einzigen potentiellen Kriegsverbrechen, die russische Truppen in der Ukraine begangen haben und immer noch begehen, erklärt Tetjana Petschontschyk von der Menschenrechtsorganisation Zmina. "Wir haben es mit Verschwinden lassen und Entführungen zu tun", sagt sie. Vor allem wenn es um aktive Mitglieder der Gemeinschaft gehe: "Journalisten, Aktivisten, Vertreter der Verwaltungsorgane wie Bürgermeister oder Dorfvorsteher, Lehrer, die das russische Curriculum nicht umsetzen wollen oder Aktivisten, die gegen die Besatzung protestiert haben und danach verschwunden sind".
42.000 Verfahren laufen derzeit
Einer von ihnen ist Iwan Fjodorow, der Bürgermeister der russisch besetzen Stadt Melitopol. Anfang März wird er verhaftet, weil er nicht mit den Besatzern kooperieren will. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt an, Fjodorow werde gefoltert und setzt sich für seine Freilassung ein. Nach fünf Tagen kommt Fjodorow frei. Er ist nur einer von vielen mit ähnlichem Schicksal, sagt er der Nachrichtenagentur AP: "Ich war der erste Bürgermeister, der entführt wurde, aber jetzt sind es schon mehr als 50. Hunderte unserer Bürger sind entführt, werden festgehalten, gefoltert und getötet. Es ist eine schwierige Situation."
Entführung, Vergewaltigung, Folter, Mord oder der gezielte Beschuss ziviler Infrastruktur - die russischen Truppen begehen ganz unterschiedliche Verbrechen in der Ukraine. 42.000 Verfahren im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen gibt es derzeit. Jede Woche kämen 100 bis 200 neue Fälle hinzu, sagt Menschenrechtlerin Petschontschyk. Und diese Zahlen scheinen nur einen Bruchteil der Verbrechen abzubilden - denn sie beziehen sich nur auf das von ukrainischen Truppen kontrollierte Gebiet.
Es ist nicht nur die Menge, die den Ermittlern Probleme bereitet, erklärt Petschontschyk. "Die Ermittlungen bei Kriegsverbrechen sind viel schwieriger als bei normalen Verbrechen", sagt sie. "Die Ermittler brauchen mehr Wissen, mehr Ausbildung, mehr Personal und mehr Ausrüstung für die Sammlung und Verarbeitung dieser Daten."
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Beweise müssen noch in 30 Jahren Bestand haben
Hier versucht Deutschland zu helfen. Man kooperiere eng mit den ukrainischen Behörden, sagte Justizminister Buschmann bei seinem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt. Und helfe auch ganz praktisch: Deutschland liefere Materialien und Werkzeuge zur Beweismittelsicherung. Denn nur wenn Beweise so gesammelt und gesichert werden, dass sie in 20 bis 30 Jahren noch vor Gericht Bestand haben, können potentielle Kriegsverbrecher auch dann noch zur Verantwortung gezogen werden.
Damit das gelingt, müsse aber auch die Ukraine noch Reformen anstoßen, sagt Menschenrechtlerin Petschontschyk. "Wir haben eine schwache Gesetzgebung in Bezug auf Qualifikation. Und der Präsident, das Parlament, sind sehr zögerlich, internationale Anforderungen zu erfüllen und das Strafjustiz-System internationalen Standards anzupassen."
Die Verfolgung der Kriegsverbrechen sei wichtig für die Zukunft, meint Petschontschyk. Denn, dass russische Verbrechen auf der Krim und im Donbass jahrelang nicht geahndet wurden, sei der Grund für das Ausmaß der Gewalt während des jetzigen Angriffskrieges.