Drohnen-Attacken der Ukraine Angriff auf "Russlands Achillesferse"
In den Tagen vor der Präsidentenwahl in Russland überrascht die Ukraine mit einer Serie von Drohnenangriffen auf Ziele auch im russischen Hinterland. Deutet sich eine neue Phase des Krieges an?
Es sieht aus wie ein schwarzer Punkt am Himmel, der sich auf im Internet verbreiteten Videos bemerkenswert langsam von links nach rechts bewegt, um schließlich in einem Feuerball aufzugehen. Es ist eine von mutmaßlich drei ukrainischen Drohnen, die innerhalb kurzer Zeit auf dem Gelände der russischen Ölraffinerie Rjasan einschlagen und explodieren.
Rjasan ist nicht irgendeine Raffinerie, sondern eine der größten in Russland. Sie liegt weit weg von der ukrainischen Grenze, südöstlich von Moskau. Und: Rjasan ist nicht das einzige Ziel, das ukrainische Drohnen seit der Nacht zu Dienstag in Russland beschossen haben. Laut Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg machen die angegriffenen Raffinerien mindestens zwölf Prozent der russischen Ölverarbeitung aus.
Und auch wenn noch unklar ist, wie groß die Schäden für die Treibstoff-Produktion sind, sei der Ölverkauf Russlands Achillesferse, sagt der Militärökonom Markus Keupp: "Nichts tut Russland so weh, wie ein Einbruch der Ölproduktion. Der russische Staat finanziert sich zu über 50 Prozent aus den Einnahmen von Öl- und Gasverkauf und ist natürlich jetzt aufgrund der Sanktionen sehr stark darauf angewiesen, sein Öl zu produzieren."
Unangenehme Fragen für Putin
Doch es gehe nicht nur um den wirtschaftlichen Schaden, so Keupp. Die jüngsten Angriffe hätten auch eine andere Botschaft. "Wenn sie sich die Videos angucken: Diese Drohnen sind relativ groß, sie fliegen relativ langsam, und man kann sie auch sehr gut beobachten. Und trotzdem fliegen die einfach so in die Raffinerie ein." Man könne die "berechtigte Frage stellen, was macht eigentlich die russische Luftverteidigung?".
Eine Frage, die dem Kreml so kurz vor der Wahl sicher ungelegen kommt. Denn es sind nicht nur Raffinerien, die in Russland seit Tagen brennen, sondern auch ein Flughafen, Treibstoffdepots und Behördengebäude.
Und mehr noch: Seit der Nacht auf Dienstag konnten die russischen Streitkräfte offenbar nicht verhindern, dass schwer bewaffnete Kreml-feindliche Milizen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen, nach Russland eindringen. Die Kämpfer reklamieren, Teile der russischen Grenzregion um Belgorod und Kursk besetzt zu halten. Russland behauptet, man habe die Milizen erfolgreich bekämpft. Unabhängig überprüfen lässt sich die Lage vor Ort nicht.
Der Österreichische Militär-Experte Oberst Markus Reisner erkennt darin ein Muster. Vergleichbare Vorstöße solcher Milizen auf russisches Territorium habe es bereits in der Vergangenheit gegeben - und zwar meist nach ukrainischen Misserfolgen. Reisner spricht von "einer ganz gezielten Methode der Kriegsführung im Informationsraum, um den Blick des Betrachters in eine gewisse Richtung zu schwenken", weg von eigenen Verlusten, wie jüngst dem Fall von Awdijiwka.
Russische Offensive gestoppt?
Einen neuen Blick auf den Krieg versucht seit dieser Woche auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu vermitteln. Im französischen Fernsehen erklärte er am Montag, der russische Vormarsch sei "gestoppt". Die Lage an der Front sei besser als in den vergangenen drei Monaten.
Oberst Reisner rechnet in den kommenden Wochen tatsächlich eher nicht mit größeren russischen Vorstößen. Das jedoch liegt für ihn nicht an geänderten Kräfteverhältnissen. Selenskyj wisse, dass "die Rasputiza vor der Tür" stehe, die Schlammperiode, in der Bewegungen mit "schwerem Gerät" kaum möglich sind.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Neue Phase, aber kein Wendepunkt
Militär-Ökonom Keupp erklärt, dass man durchaus merke, dass die Ukraine wieder vereinzelt Munitionslieferungen erhalten habe. Und sie habe "natürlich auch noch Reserven", die sie jetzt eingesetzt habe, um Teile der Front zu stabilisieren.
Möglicherweise also eine neue Phase in diesem Krieg, aber kein Wendepunkt. Die Experten Reisner und Keupp gehen davon aus, dass dieser Konflikt für lange Zeit ein Abnutzungskrieg bleiben werde. Auch wenn beide Seiten gerade jetzt, kurz vor der Wahl in Russland, lieber Erfolgsgeschichten erzählen.
Oberst Reisner glaubt vor diesem Hintergrund, dass die jüngsten Drohnenangriffe erst ein Anfang waren: "Ich denke, dass wir in den nächsten Tagen noch die eine oder andere spektakuläre Überraschung sehen werden."