Franco-Diktatur Spanien gräbt seine Geschichte aus
Im spanischen Bürgerkrieg verschwanden Hunderttausende Menschen in Massengräbern. Statt Aufarbeitung gab es eine Amnestie und Schweigen. Freiwillige spüren nun die Toten auf und exhumieren sie, um Angehörigen würdige Begräbnisse zu ermöglichen.
Langsam schreitet ein junger Mann mit einem Metalldetektor ein Feld in der Nähe des Dorfes Recas bei Toledo ab. Hin und wieder schlägt das Gerät mit hohem Ton an. Dann beginnen andere mit Spaten und Hacke vorsichtig zu graben. Schnell werden sie fündig: eine Münze, dann eine Patrone. Es ist klar: Sie graben an der richtigen Stelle. Auf dem Acker befindet sich eines der unzähligen, namenlosen Gräber aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Mehr als hunderttausend Menschen sind damals verschwunden. Spanien ist nach Kambodscha das Land mit den meisten ungeöffneten Massengräbern.
Am späten Vormittag hält ein Auto auf dem Feldweg an. Eine alte Dame steigt aus, begleitet von einem älteren Herrn. Die 92-jährige Agustina Recio und ihr Sohn Benedicto haben ihr ganzes Leben auf diesen Tag gewartet: Agustinas Vater Florentino, ein Republikaner, wurde im November 1936 von einem Kommando des Diktators Francisco Franco getötet und auf diesem Feld bei Toledo verscharrt.
Agustina war damals sechs Jahre alt. "Ich erinnere mich besonders daran, dass wir im Hof zu Abend aßen, als drei Männer kamen", erzählt Agustina. "Einer sagte zu meinem Vater: 'Florentino, hör auf zu essen und steh auf.' Ich widersprach: Lasst ihn wenigstens zu Ende essen. Doch sie nahmen ihn einfach so mit." Am nächsten Tag wurde ihr Vater zusammen mit sechs anderen Männern erschossen.
"Geburtsfehler" der spanischen Demokratie: das Schweigen
Es sind solche Geschichten, die den Schrecken des Bürgerkriegs vor mehr als achtzig Jahren bis heute spürbar werden lassen. 1936 hatte der faschistische General Franco gegen die demokratisch gewählte linke Regierung geputscht. Fast drei Jahre dauerte der Bürgerkrieg, auf beiden Seiten starben Tausende Soldaten, kam es zu Verbrechen. Doch nach Francos Sieg wurden nur die faschistischen Toten geehrt. Über die von der anderen Seite redete man nicht.
Und auch nach Francos Tod 1975, als Spanien demokratisch wurde, dauerte das Schweigen an. In der Phase der Transición, des Übergangs, gab es einen stillschweigenden Pakt, nicht über den Bürgerkrieg zu reden; eine Amnestie sollte den Weg in die junge Demokratie erleichtern. So etwas wie der Geburtsfehler für das demokratische Spanien, findet Marco Gonzalez. Er gehört zur Gruppe von Freiwilligen, die die Exhumierung der Massengräber organisiert. "Vereinigung zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses" nennt sich sein Verein.
"Als Spanien demokratisch wurde, hat jemand seinen Job nicht gemacht", sagt Gonzalez. "Die Verbrechen der Diktatur und des Franquismus wurden nie verurteilt. Alle begangenen Verbrechen blieben völlig ungesühnt." Er zeigt auf den Acker, auf dem die Freiwilligen nun menschliche Überreste freilegen, die sie aufgespürt haben: einige Knochen und einen Schädel. "Sehen Sie, es gibt hier keinen öffentlichen Vertreter. Dabei sollte es doch der Staat sein, der die Angehörigen begleitet und diese Arbeit macht", findet er. "Doch er ist nicht da."
Auf einem Feld im Umland von Toledo suchen Freiwillige nach Massengräbern aus dem Bürgerkrieg.
Genugtuung für Hinterbliebene der Toten
Hunderte Gräber hat die Vereinigung bereits geöffnet und mehr als tausend Tote geborgen. Agustinas Sohn Benedicto, der zusammen mit seiner Mutter die Ausgrabung verfolgt, kann es noch gar nicht fassen, was er hier sieht. Jahrelang hat er mit den Bürgermeistern um Dokumente und Genehmigungen gekämpft. "Ich habe wirklich viel gelitten", sagt er. "Fünf Jahre hat allein die Auseinandersetzung mit der Gemeinde Recas gedauert. Doch jetzt ist es eine echte Genugtuung, dass wir den Großvater finden können."
Die derzeitige linke Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez will mit einem neuen "Gesetz für die demokratische Erinnerung" dafür sorgen, dass auch der Staat bei den Exhumierungen der Massengräber mehr Verantwortung übernimmt. Die rechte Opposition läuft dagegen Sturm, spricht von alten Wunden, die ohne Not aufgerissen würden.
Andere linke Regionalparteien fordern dagegen, das neue Gesetz müsse noch weitergehen und die bisherige Amnestie aufheben. Die Taten von damals sollten heute strafrechtlich verfolgt werden. Ob das geplante Gesetz eine Mehrheit findet: unklar. Spanien bleibt gespalten, es ist, als befinde sich das Land noch immer in den Schützengräben von damals.
Agustina Recio war sechs Jahre alt, als ihr Vater erschossen und in diesem Feld verscharrt wurde.
Letzte Sicherheit per DNA-Test
Am dritten Tag der Ausgrabung liegen die Toten, die Skelette offen da. Im Erdreich ein Schädel, der Mund weit aufgerissen, die Todesangst für immer festgehalten - ein stummer Schrei.
Agustina Recio sitzt auf einem Stuhl und verfolgt die Arbeit der Freiwilligen, wie sie nun mit Pinseln die Fundstücke säubern, abfotografieren und in Kisten verpacken. Ein DNA-Test wird letzte Sicherheit bringen.
Die 92-Jährige kann sich dann ihren größten Wunsch erfüllen und den Vater auf dem Friedhof beerdigen. "Das ist für mich die größte Freude, bald meinen Vater neben der Mutter zu sehen."
Die Freiwilligen wollen den Opfern der Franco-Diktatur ihre Würde zurückgeben. Agustina Recio hat auf diesem Moment ihr ganzes langes Leben warten müssen.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie am 28.11.2021 im "Europamagazin", ab 12.45 Uhr im Ersten.