Russlands Krieg gegen die Ukraine "Putin fürchtet sich nicht vor der NATO"
Putin ziele auf die Vernichtung der kulturellen Identität der Ukraine und nutze die Schwäche Europas, sagt der Osteuropa-Experte Gressel. Das müsse schnell reagieren: Die Ukraine befinde sich in einem "Verzögerungskampf auf Zeit".
tagesschau.de: Spricht der breite Angriff russischer Truppen auf die Ukraine dafür, dass dieses Vorhaben seit Monaten geplant worden ist?
Gustav Gressel: Die heutigen Ereignisse bestätigen, dass dies von langer Hand geplant worden ist. Es bestätigt alle Vermutungen der Nachrichtendienste, dass sich in den russischen Sicherheitskreisen der Glaube durchgesetzt hat, das "Problem" Ukraine müsse militärisch gelöst werden. Das ist bitter. Der Versuch des Westens, dies durch diplomatische und wirtschaftliche Mittel einzuhegen, ist gescheitert. Ich hatte immer die Vermutung, dass die Gespräche von russischer Seite nie ernsthaft geführt wurden, dass die Maximalforderungen immer nur ein Mittel waren, den Westen zu beschäftigen und einen Grund für den Krieg zu kreieren.
Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalytiker beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.
"Eine reine Erfindung"
tagesschau.de: Russland begründet seinen Angriff mit vielen Vorwürfen - es gebe einen Genozid gegen Russen in der Ukraine, Neonazis hätten im Land das Sagen. Wie bewerten Sie diese Behauptungen?
Gressel: Das sind nichts anderes als dreiste, brutale Lügen. Dass Präsident Volodymyr Selenskyj, der jüdischen Glaubens ist, ein Neonazi sein soll, ist absurd, wie es absurder nicht sein könnte. Dass ein Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung stattfinden könnte, ist eine reine Erfindung. 80 Prozent der Ukrainer sprechen Russisch als ihre erste Sprache. Ukrainisch wurde erst nach 2014 Mode - nicht als Bedingung für, sondern als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Krim und den Donbass. Es ist ein gigantischer Euphemismus. Wir sollten uns nicht einmal darum kümmern, diese Worte aufzunehmen. Schande über die in der Linkspartei und in der AfD, die dieses Zeug nachbrabbeln. Aber das müssen sie vor ihrem Gewissen und der Geschichte zu einem späteren Zeitpunkt verantworten.
"Vernichtung der kulturellen Identität"
tagesschau.de: Die russische Armee gilt der ukrainischen als weit überlegen. Wie weit wird sie ihrer Einschätzung nach gehen?
Gressel: Das Kriegsziel hat Putin in seiner Rede vom 21. Februar und in seiner Kriegserklärung ausformuliert. Es ist die Vernichtung der Ukraine als Volk und als kulturelle Identität. Dieses Kriegsziel lässt sich nur mit einer Besatzung zumindest größerer Teile der Ukraine und der wichtigsten urbanen Zentren erreichen. Wir sehen deshalb heute ein Vorrücken auf Charkiw, ein Vorrücken aus der Krim und ein Vorrücken auf Kiew. Die Minimalversion wäre eine Besetzung der Ukraine bis zum Dnepr. Ich befürchte aber, dass der Angriff noch weiter gehen wird.
"Ein Kampf, der bitter enden wird"
tagesschau.de: Wie viel Widerstand kann die ukrainische Armee dem entgegensetzen?
Gressel: Die ukrainische Armee ist entschlossen, Widerstand zu leisten. Es gibt auch Belege für schwere Kämpfe, gerade um Charkiw. Man darf das nicht als sinnlos abtun. Auch wenn am Ende die Niederlage feststeht, gibt die Armee zumindest den eigenen Familien die Chance, aus dem Gebiet herauszukommen und dem Schicksal, das ihnen unter russischer Herrschaft blüht, zu entfliehen.
Das ist natürlich ein Verzögerungskampf auf Zeit, und es ist ein Kampf, der bitter enden wird. Aber die Ukraine steht mit dem Rücken zur Wand, konfrontiert mit einem Aggressor, der sie als kulturelle Identität auslöschen will - was soll ihr übrig bleiben als zu kämpfen, solange sie kämpfen kann?
Die Folgen in Russland
tagesschau.de: Sollte die ukrainische Armee - und vielleicht auch die Bevölkerung - einen stärkeren Widerstand leisten, als erwartet, was würde das für den Fortgang des Krieges und die Reaktion in Russland selbst bedeuten?
Gressel: Ich glaube nicht, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung es gutheißen würde, wenn massive eigene Verluste zu verzeichnen sein sollten. Mit diesem Krieg hat Putin gewissermaßen auch seine eigene Herrschaft aufs Spiel gesetzt. Man hat in den Diskussionen der vergangenen Tage gesehen, dass einige Herren aus der Führungsriege mit dieser Entscheidung etwas ringen und ins Stottern kommen.
tagesschau.de: Sie spielen auf die Sitzung des Sicherheitsrates vor der Anerkennung der "Unabhängigkeit" der "Volksrepubliken" an, in der jeder der Teilnehmer dem russischen Präsidenten sagen musste, ob er dieses Vorhaben unterstützt oder nicht.
Gressel: Ja, und dieses Ringen ist natürlich eine Gefahr für ihn. Aber er scheint den Entschluss gefasst zu haben, dass es ihm dieses Risiko wert ist. Ich glaube, dass die ukrainische Armee wirklich kämpft und dass es auf russischer Seite zu erheblichen Verlusten kommen wird. Aber das ist etwas, das Putin mit sich selbst ausmachen muss.
Vor der Anerkennung der Separatistengebiete holte Putin formell die Meinung seines Sicherheitsrates ein - manches Mitglied kam dabei ins Stottern und wurde vom Präsidenten regelrecht vorgeführt.
"Putin hat sich entschlossen, ein Risiko einzugehen"
tagesschau.de: Es gibt die These, Putin spüre seine Macht schwinden und sei auch deswegen gewillt, einen solchen Kriegszug zu starten, um seine Position zu stärken. Halten Sie es für denkbar?
Gressel: Ich glaube, innenpolitisch ist das Risiko, dass er die Macht verliert, eher gestiegen als gesunken. Allerdings hat er gesehen, dass die Ukraine sich nicht auf Russland zubewegt und er die Ukraine verlieren würde, wenn er sie nicht militärisch zurückholt. Er hat sich entschieden, sie militärisch zurückzuholen und sich einen Vasallenstaat zu errichten.
tagesschau.de: Wir haben schon 2014 auf dem Maidan einen großen Willen zur Selbstbehauptung gesehen. Unterschätzt Putin womöglich den Widerstandswillen in der Bevölkerung? Kann er überhaupt davon ausgehen, die Ukraine auf Dauer zu befrieden?
Gressel: Es sind ja schon Vorbereitungen für einen Besatzungsregime durch die Verlegung von Nationalgarde-Einheiten und durch die Vorbereitung von Todeslisten getroffen worden. Ich glaube, das wird ein ähnlich repressives Regime wie in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Dort wollten die Menschen 2014 auch nicht zu Russland zurück. Es gab zwar eine größere Skepsis gegenüber dem Maidan und seinen Motiven, und es gab vor allen Dingen in den Tagen von April bis Mai 2014 Unsicherheit. Aber es gab keine Lust, sich Russland unterzuordnen. Die Leute wurden nicht gefragt.
Wir müssen hier vermuten, dass dieser Krieg in seiner Dimension an das erinnern wird, was Russland in Syrien angestellt hat. Man wird durch massiven Terror und das systematische Begehen von Kriegsverbrechen die Leute so weit einschüchtern wollen, sich der russischen Macht nicht zu widersetzen.
"Putin wird den Westen verantwortlich machen"
tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass Putin sogar über die Ukraine hinausgreift, also zum Beispiel mit Blick auf das Baltikum?
Gressel: Die Ukraine wird sich wehren. Ich glaube auch, dass es nach einer Besetzung einen Widerstand gegen das Besatzungsregime geben wird. Hier wird Putin aus seiner eigenen Weltsicht handeln - und die hat er schon dargelegt. Jeder antirussische Widerstand, sei es in Tschetschenien oder sonstwo, ist von den USA und vom Westen gesponsert. Er wird für den Widerstand in der Ukraine den Westen verantwortlich machen. Und er wird das Mittel einsetzen, von dem er sieht, das der Westen vor ihm immer zurückschreckt, nämlich militärische Gewalt. Um den Westen zu bedrohen, die "Ukraine fallenzulassen", weil es natürlich nicht in unserer Hand liegt, zu entscheiden, was die Ukrainer auf ihrem Territorium und mit ihrem eigenen Leben selbst tun.
Aber diese Konfrontation wird kommen - und dann wird es von unserer Bereitschaft, uns verteidigen und abschrecken zu können, abhängen, ob es zu einem größeren Flächenbrand kommt oder nicht.
Wissen um die Schwäche der Europäer
tagesschau.de: Putin hat immer einen Abstand der NATO zu Russland gefordert. Wenn er die gesamte Ukraine unterwirft, rückt Russland noch viel näher an die NATO-Staaten heran.
Gressel: Er fürchtet sich nicht vor der NATO. Er weiß, dass die Europäer militärisch schwach sind. Er weiß, dass die Amerikaner im Grunde in China den Hauptfeind sehen. Darauf spielt er - dass er jetzt ein Fenster bekommt, in dem die Amerikaner aus Europa rauswollen, in dem er seine imperialen Pläne verwirklichen kann. Wie weit diese Pläne gehen, hängt davon ab, wann ihm jemand Einhalt gebietet. In der Ukraine haben wir eben nicht Einhalt geboten. Ob wir ihm bei anderen Territorien Einhalt gebieten werden, wird die Zukunft zeigen.
"Müssen mit enormer Geschwindigkeit aufholen"
tagesschau.de: Was muss der Westen jetzt tun?
Gressel: Wirklich harte sektorale Sanktionen, und damit meine ich den kompletten und sofortigen Stopp von Gas- und Ölverkäufen, wären das Mindeste. Aber wir müssen vor allen Dingen militärisch unseren eigenen Laden in Ordnung bringen. Wenn ich mir anschaue, mit was für Klecksel-Truppen die NATO versucht, an der Ostgrenze präsent zu sein … Die russischen Invasionstruppen in die Ukraine sind viermal so stark wie die ganze NATO Response Force. Wir sind jetzt mit Drohungen Putins an die Europäer konfrontiert, dass mit nuklearen Schlägen zu rechnen ist, wenn sie sich einmischen. Genau vor dieser Situation ist immer gewarnt worden - dass die Vorteile Russlands auf dem nicht strategisch-nuklearen Sektor in Krisen- und Kriegszeiten einen Abschreckungs- und politischen Vorteil bedeuten.
Wir haben 30 Jahre mit Debatten um komplette Abrüstung vertrödelt. Wir haben 30 Jahre vertrödelt, die russische Aufrüstung wahr- und ernstzunehmen. Wir müssen jetzt unter enormer Geschwindigkeit aufholen. Das ist das allererste Gebot der Stunde. Der heutige Tag zeigt, dass Putin nur militärische Gewalt versteht und er dieses Mittel einsetzen wird, um seine Ziele zu erreichen, wenn man ihm da nicht begegnet. Das muss uns unsere eigene Sicherheit und unser Frieden wert sein, hier jetzt wirklich nachzuziehen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de