Demonstranten protestieren gegen die Missstände in rumänischen Altenheimen mit Plakaten auf denen ""Toti stiau" - "alle wussten es" steht

Entsetzen in Rumänien Pflegeheime des Grauens

Stand: 18.07.2023 08:48 Uhr

Misshandelt, ausgehungert, ausgebeutet: Rumänische Behörden haben grausame Zustände in Heimen aufgedeckt. Es besteht der Verdacht, dass wichtige Politiker in den Skandal verwickelt sind.

Nachbarn von Pflegeheimen im Ort Voluntari bei Bukarest berichten Unfassbares. Manchmal, sagt einer, habe er sie am Zaun sehen können: "Sie bettelten um Essen, sie waren voller Fäkalien und nackt."

Immer wenn sie an dem örtlichen Pflegeheim vorbeikomme, erzählt eine Frau, "kommen die armen Alten zum Tor und betteln: 'Ich will etwas Geld, gib mir zwei Lei, hast du vielleicht ein Kipferl?'"

Behörden reagierten jahrelang nicht

Beinahe zwei Jahre lang haben Anwohner sich bei den örtlichen Behörden über die grausamen Zustände beschwert, die sie hinter den Mauern und Zäunen der Grundstücke vermuteten. Vergeblich, wie rumänische Investigativ-Journalisten nun aufgedeckt haben.

Niemand half den Alten und Kranken, den Menschen mit Behinderung. Erst Anfang Juli schritten die Behörden ein und räumten drei Altenheime. Die Polizei stellte dabei fest, es hätten Medikamente gefehlt, die Verpflegung sei unzureichend gewesen - "und die Menschen wurden erniedrigt und unmenschlich behandelt", so Polizeisprecher Georgian Dragan.

1000 Heime kontrolliert, dutzende geschlossen

Rund 100 Menschen wurden in Krankenhäuser gebracht, abgemagert, teils mit offenen Wunden. Die Betreiber sollen nicht nur Geld von den Bewohnern kassiert haben, sondern auch Sozialleistungen vom Staat. Mehr als 1000 Altenheime wurden seitdem landesweit kontrolliert, dutzende geschlossen. In der Nähe von Bukarest fand die Polizei elf Menschen in einem Rohbau, die dort vor einer Kontrolle versteckt werden sollten. 

Das Entsetzen in Rumänien ist groß. Präsident Klaus Iohannis spricht von "Horror-Altenheimen" und einer "nationalen Schande". Neben den direkt Verantwortlichen macht Iohannis weitere Schuldige aus. Es sei "nicht vorstellbar", dass es solche Heime gebe, ohne dass die Behörden davon wüssten. Es müsse herausgefunden werden, wer davon wusste und nicht gehandelt hat, und diese Leute müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

 

Eine Frau hält ein Protestplakat mit dem Porträt von Gabriela Firea

Eine Frau hält ein Protestplakat mit dem Porträt von Gabriela Firea - bis zu ihrem Rücktritt am Freitag war sie Familienministerin. Fireas Mann ist Bürgermeister von Voluntari; ihre Schwester leitete jahrelang die Behörde, die für die Kontrolle der Heime zuständig ist.

"Alle wussten es"

Iohannis ist nicht allein mit dieser Meinung. "Toti stiau" - "alle wussten es": Unter dieser Überschrift posten Tausende Rumäninnen und Rumänen in sozialen Netzwerken entrüstete Beiträge. In Bukarest gingen am Wochenende zum wiederholten Male auch Menschen auf die Straße. Einer von ihnen ist Adrian Albu - für ihn hat der Staat versagt.

Zu diesen Missständen sei es gekommen, "weil der rumänische Staat nicht in der Lage ist, für seine Bürger zu sorgen, solche Dinge zu verhindern". Es liege zwar "in der menschlichen Natur", dass manche Menschen andere Menschen ausnutzen, glaubt Albu. Aber ein normaler Staat müsse Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht passiert.

Aktiv vertuscht?

Die Zahl der privaten Altenheime ist in den letzten Jahren in Rumänien in die Höhe geschossen. Auch die rumänische Gesellschaft altert. Die Behörden kommen der Entwicklung nicht hinterher. Wie sich in den vergangenen Wochen herausstellte, hatten Dutzende Einrichtungen keine Genehmigungen.

Was viele Menschen besonders fassungslos macht ist der Verdacht, dass Behörden und Politiker nicht nur weggeschaut, sondern aktiv vertuscht haben könnten. Der Betreiber der Heime in Voluntari hatte lange mit Gabriela Firea gearbeitet - bis zu ihrem Rücktritt am Freitag war sie Familienministerin. Fireas Mann ist Bürgermeister des Ortes; ihre Schwester leitete jahrelang die Behörde, die für die Kontrolle der Heime zuständig ist.

Firea bestreitet jegliche Verwicklung in den Skandal. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bisher nicht gegen sie. Auch der zuständige Arbeitsminister musste vergangene Woche seinen Hut nehmen. Nach nur wenigen Wochen im Amt.

Silke Hahne, ARD Wien, tagesschau, 17.07.2023 18:17 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 17. Juli 2023 um 09:24 Uhr in der Sendung "Europa heute".