Krise in Großbritannien Konservativer Scherbenhaufen
Nach nur sechs Wochen im Amt ist die britische Premierministerin Truss zurückgetreten. Es werden Rufe nach Neuwahlen laut - doch das werden die Tories nicht zulassen. Stattdessen soll die Truss-Nachfolge schnell geregelt werden.
Premierministerin Liz Truss tritt ab - das sorgt bei vielen für Erleichterung. Das seien sehr gute Nachrichten, sagt einer. Die Frau habe ja versucht, mit ihrer verrückten Politik das Land zu stören. Eine andere Britin freut sich ebenfalls: Liz Truss sei einfach entsetzlich gewesen.
Für die Oppositionsparteien in Westminster steht fest, dass es nun Neuwahlen geben muss. Das hat Labour-Chef Keir Starmer deutlich gemacht - und so sieht es auch der Chef der Liberaldemokraten, Ed Davey:
Liz Truss hat die britische Wirtschaft mit ihren nicht gegenfinanzierten Steuersenkungen verwüstet. Vor ihr hat Boris Johnson das Land mit seiner Verlogenheit und seinem Gesetzesbruch im Stich gelassen. Die Tories haben bewiesen, dass sie unfähig sind, das Land zu führen. Wir brauchen nicht noch einen konservativen Premierminister, wie brauchen eine Unterhauswahl, und konservative Abgeordnete müssen ihrer patriotischen Pflicht nachkommen und dafür stimmen."
Tories werden keiner Neuwahl zustimmen
Dies ist allerdings nur ein Appell. Die Opposition kann Neuwahlen lediglich fordern, denn einen Automatismus gibt es nicht. Auch wenn die Tories erst vor Kurzem den Premier ausgewechselt haben, besteht nun, bei der Wiederholung des Ganzen, kein Zwang, das Wahlvolk abstimmen zu lassen.
Das müssten die Konservativen selbst durchsetzen, und das werden sie nicht tun. Denn in Umfragen lagen sie zuletzt 30 Prozentpunkte und mehr hinter Labour und würden eine Unterhauswahl krachend verlieren. Der konservative Abgeordnete Mark Garnier bringt es auf den Punkt:
Wenn wir morgen eine Wahl hätten, dann würde es keinen einzigen konservativen Abgeordneten mehr geben.
Komitee will Bewerberkreis klein halten
Und so werden wohl doch nur die Konservativen darüber entscheiden, wer als nächstes in 10 Downing Street einzieht und der dritte Premier in diesem Jahr wird. Das für das Wahlverfahren zuständige parlamentarische Gremium der Konservativen, das sogenannte 1922 Committee, will den Bewerberkreis sehr klein halten. Der Komitee-Vorsitzende Graham Brady sagt:
Wir haben einen hohen Schwellenwert angesetzt, aber einen, der von allen ernstzunehmenden Kandidaten mit einer realistischen Siegchance zu schaffen sein sollte.
Demnach muss jeder Bewerber von mindestens 100 konservativen Abgeordneten nominiert werden, um es auf die Liste zu schaffen. Wer Liz Truss im Amt nachfolgen will, muss bis Montag, 14 Uhr Ortszeit, seine Unterstützer beisammenhaben. Bekommt nur eine Person genügend Stimmen, ist sie automatisch neuer Parteichef und Premier.
Das Komitee von 1922 - auch bekannt als "die 22" - ist ein Komitee aller konservativen Abgeordneten der Hinterbank. Es trifft sich wöchentlich, wenn das Unterhaus tagt. Ihr Vorsitzender, in der Regel ein hochrangiger Abgeordneter, wird von den Ausschussmitgliedern gewählt und hat beträchtlichen Einfluss innerhalb der Parlamentspartei. Seit 2010 ist dies Sir Graham Brady.
Es bietet den Hinterbänklern die Möglichkeit, Politik zu diskutieren und dem Kabinett ihre Ansichten mitzuteilen. Lange Zeit spielten die Abgeordneten eine wichtige Rolle dabei, wer Parteivorsitzender wird. Es gibt die Stimmung der Hinterbänkler wieder und ist ein maßgeblicher Machtfaktor innerhalb der Partei.
Das 1922-Komitee spielt traditionell auch bei Vertrauensabstimmungen und bei der Wahl eines neuen Vorsitzenden eine gewichtige Rolle innerhalb der Tories.
Das Komitee von 1922 wurde tatsächlich im April 1923 auf Initiative neuer konservativer Abgeordneter gegründet, die bei den Parlamentswahlen 1922 gewählt wurden, um die Zusammenarbeit innerhalb der Partei zu erleichtern.
Gibt es die maximale Zahl von drei Kandidaten, stimmen die konservativen Abgeordneten ab, und der Kandidat mit den wenigsten Stimmen scheidet aus. Über die verbliebenen zwei Kandidaten wird noch einmal abgestimmt. In diesem Fall scheidet aber niemand aus, es geht lediglich darum zu demonstrieren, welchen Kandidaten die Abgeordneten präferieren.
Das soll offenbar eine klare Botschaft an die Parteibasis senden, die danach per Onlineabstimmung entscheiden darf, wer das Rennen macht. Im Sommer hatten die konservativen Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit für Ex-Finanzminister Rishi Sunak gestimmt, die Parteibasis hatte dann aber Liz Truss zur Parteichefin und Premierministerin gekürt. Ein Fehler, wie inzwischen auch eine Mehrheit an der Basis glaubt.
Diskussion um Boris Johnson neu entbrannt
Es gilt als sicher, dass Ex-Finanzminister Rishi Sunak und Fraktionschefin Penny Mordaunt antreten werden. Mit der neuen Suche nach einer Führungsfigur ist aber auch die Diskussion um Boris Johnson wieder entbrannt.
Die Meinungen gehen weit auseinander: Die einen sehen ihn als Visionär, die anderen wenden sich mit Grausen ab und verweisen darauf, dass nach wie vor ein Parlamentsausschuss untersucht, ob Johnson im Zuge der Partygate-Affäre die Abgeordneten belogen hat.
Truss hat Rekord sicher
Egal, wer Liz Truss in der kommenden Woche nachfolgt: Er oder sie muss versuchen, die Partei zu einen, die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen und eine neue Vision für das Post-Brexit-Britain zu entwickeln. Truss hatte die Vision von einem "Singapore-on-Thames" verfolgt und wollte ein Großbritannien mit niedrigen Steuern und wenig Regulierung. Diese Vision dürfte nun für längere Zeit auf Eis liegen.
Ein Platz in den Geschichtsbüchern ist Liz Truss trotzdem sicher: Sie wird, wenn sich in 10 Downing Street die Tür hinter ihr schließt, für die kürzeste Amtszeit in der britischen Geschichte stehen.