Ostseerat zu russischen Provokationen "Man will uns auf die Probe stellen"
Ob GPS-Störungen, Desinformation oder verschobene Grenzmarkierungen: Immer häufiger kommt es im Ostseeraum zu Provokationen. Die Anrainerstaaten sehen Russland als Urheber - und entwickeln im Ostseerat Gegenstrategien.
Mal sind es Grenzmarkierungen, die plötzlich fehlen, mal Server, die lahm gelegt werden: Sabotage und Desinformationskampagnen seien inzwischen im Ostseeraum an der Tagesordnung, sagt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock.
Auf wessen Konto die Attacken gehen, daran haben die Außenministerinnen und Außenminister, die am Abend in der finnischen Stadt Porvoo zusammenkommen, keinen Zweifel: Russland versuche gezielt, Unsicherheit zu schüren, zu destabilisieren.
Die Mitglieder des Ostseerates - Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Schweden, Polen, Deutschland, Norwegen, Island und die Europäische Union - wollen dem etwas entgegensetzen. Die Abwehr hybrider Bedrohungen ist gleich zum Auftakt das zentrale Thema.
"In diesem Ausmaß nie zuvor gesehen"
Dass die Lage ernst ist, lässt sich an vielen Zwischenfällen der vergangenen Monate ablesen. "Das vielleicht beste Beispiel sind die GPS-Störungen - so wie im Dezember vergangenen Jahres, als sowohl unsere Mobiltelefone als auch die Möglichkeit, eine GPS-Position zu ermitteln, beeinträchtigt waren", sagt Hans Liwang, Wissenschaftler an der Hochschule für Verteidigung in Stockholm. "Das hat sich auf die Luftfahrt und die zivile Schifffahrt ausgewirkt. Ein Effekt, den wir in diesem Ausmaß nie zuvor gesehen haben."
Die finnische Fluggesellschaft Finnair konnte im Frühjahr für einige Wochen nicht im estnischen Tartu landen, weil es zu GPS-Ausfällen kam. Landwirte klagten, dass ihre Traktoren nicht mehr genau zu navigieren seien. Im Mai bestellte das estnische Außenministerium den russischen Geschäftsträger ein, weil es immer mehr Störungen und Ausfälle gab.
Moskau will Grenzen austesten
Was aber will Russland mit solchen Manövern erreichen? "Das eine ist, uns zu spalten. Uns das Gefühl zu geben, dass wir Schwachstellen haben. Kritische Stimmen sollen laut werden", erklärt Liwang. "Das andere ist, dass man uns vielleicht auch auf die Probe stellen will."
Auch an anderen neuralgischen Stellen scheint Moskau austesten zu wollen, wie weit man gehen kann. Im Fluss Narva hat Russland Ende Mai die Grenzmarkierungen zu Estland entfernt. Im Internet tauchten Karten mit neuen Seegrenzen auf.
Das Verteidigungsministerium, sagt die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, ganz offen, plädiere für eine Überarbeitung der Seegrenzen in der Ostsee, weil sich die Küstenlinie und die Inseln verändert hätten.
"Darüber hinaus wurden die heute geltenden Grenzlinien auf der Grundlage von Materialien aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts festgelegt", so Sacharowa. "Sie deckten unter anderem die Gebiete der ehemaligen Unionsrepubliken der UdSSR - Lettland und Estland - ab, was, wie Sie wissen, nicht zu den heutigen politischen und geografischen Realitäten passt."
Besserer Schutz für Unterwasser-Infrastruktur
Dass dies alles, wie die Sprecherin betont, nur technischen Charakter habe, glaubt im Ostseerat niemand. Die sicherheitspolitischen Fragen stehen bei dem zweitägigen Treffen deshalb ganz oben auf der Tagesordnung. Dabei geht es auch um einen besseren Schutz von Unterwasser-Infrastruktur, Datenkabeln, Schifffahrtswegen und Offshore-Windparks.
Je mehr Nadelstiche es von der russischen Seite gebe, so Außenministerin Baerbock, desto enger rücke man zusammen. Der Ostseerat, der als regionales Forum bisher kaum auffiel, bekommt durch die gezielten Provokationen Russlands unerwartetes politisches Gewicht.
In einer früheren Version des Textes fehlt in der Aufzählung der Mitglieder des Ostseerates das Land Dänemark.
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