Autorin Sofi Oksanen "In Russland gibt es keine Frauen an der Macht"
Frauenfeindlichkeit sei für Russland ein politisches Instrument, sagt die Autorin des Buchs "Putins Krieg gegen die Frauen". Der Kreml setze sexuelle Gewalt in der Ukraine als Waffe ein - und auch im eigenen Land würden Frauen von der Macht ferngehalten.
tagesschau.de: Was denken Sie: Was ist das größte Missverständnis des Westens über Russland?
Sofi Oksanen: Das ist in jedem Land ein bisschen anders. Aber eines der wichtigsten Dinge ist, dass der russische Kolonialismus nicht anerkannt wird.
tagesschau.de: In Deutschland wird von manchen Leuten immer wieder gefordert, dass die Ukraine zügig mit Russland verhandeln müsse. Haben Sie dafür Verständnis?
Oksanen: Ja, das fordern sie. Und wahrscheinlich ist da auch diese ständige Sorge über die Eskalation Russlands. Da gibt es ein tiefes Unverständnis darüber, wie Russland funktioniert.
Wissen sie, wenn Sie darüber nachdenken, wie Sie Russland möglichst nicht provozieren, dann machen Sie sich im Grunde schon mitschuldig an der russischen Aggression. Und genau das macht Russland immer! Alle anderen sind schuld, aber niemals Russland.
Sofi Oksanen, geboren 1977 in Finnland, ist die Tochter einer Estin und eines Finnen und studierte Literaturwissenschaften und Dramaturgie. In ihren Romanen, Essays und Kolumnen beschäftigt sie sich mit der politischen Geschichte Finnlands und Estlands und mischt sich immer wieder in aktuelle Debatten ein. "Putins Krieg gegen die Frauen" ist ihr neues Werk.
"Menschen auf der ganzen Welt hassen Frauen"
tagesschau.de: In Ihrem neuen Buch geht es um Putins Krieg gegen die Frauen. Warum ist Ihnen die weibliche Perspektive auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wichtig?
Oksanen: Die Art und Weise, wie Russland Frauenfeindlichkeit als politisches Instrument einsetzt, ist ein verdecktes Thema. Dass die Frauenfeindlichkeit nicht als Waffe an sich oder als Instrument des Imperialismus angesehen wird.
tagesschau.de: Warum, denken Sie, ist das so?
Oksanen: Weil die westlichen Länder die verschiedenen Aspekte der staatlichen Frauenfeindlichkeit in Russland nicht anerkennen. Ich nenne es staatliche Frauenfeindlichkeit. Und das wäre wahrscheinlich viel klarer gewesen, wenn sich westliche Länder für Frauenrechte in Russland interessiert hätten.
tagesschau.de: Woran genau machen Sie fest, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine auch ein russischer Krieg gegen die Frauen ist? Können Sie Beispiele nennen?
Oksanen: Nun, in der Ukraine ist sexuelle Gewalt natürlich eine Kriegswaffe. Auch ein Teil der Völkermordaktionen in der Ukraine. Das ist offensichtlich. In der Innenpolitik schränkt der Kreml die Frauenrechte ein, und das schon seit 20 Jahren.
Und dann nutzen sie in der internationalen Politik dieses imperialistische Instrument, glaube ich, um Verbündete aus gleichgesinnten Ländern zu gewinnen. Und auch, um Freunde in westlichen Ländern zu finden, in gleichgesinnten Gemeinschaften.
Weil Frauenfeindlichkeit etwas ist, das man überall finden kann. Sie können Menschen auf der ganzen Welt finden, die Frauen hassen. Das ist in gewisser Weise eine geniale Art, mit Menschen in Kontakt zu treten. Und wenn man all das zusammennimmt und all das staatliche Operationen sind, das ist staatlich gelebte Politik, dann sieht man, dass darin eine Logik steckt.
"Wenig Platz für weiblichen Aktivismus"
tagesschau.de: Sie haben Ihr Buch "Putins Krieg gegen die Frauen" genannt. Glauben Sie, es ist auch etwas Persönliches für Putin?
Oksanen: Nein, das glaube ich kaum.
tagesschau.de: Es geht also um Putins Russland und seinen Kampf gegen die westlichen Werte. Kann man dementsprechend sagen, dass der Feminismus zu einer Waffe gegen Putin werden kann?
Oksanen: Nun, in Russland wurde der Feminismus zum Extremismus erklärt. Feministinnen gelten als Terroristen. Es gibt in Russland sehr wenig Platz für weiblichen Aktivismus.
tagesschau.de: Es gibt zum Beispiel die russische Punk-Band Pussy Riot, seit über zehn Jahren organisieren sie politische Protestaktionen und führen sie auch durch.
Oksanen: Ja. Aber unabhängig von Pussy Riot interessieren sich die westlichen Länder nicht für Frauenangelegenheiten in Russland. Und es gibt da auch ein Missverständnis: Pussy Riot waren Helden in westlichen Ländern, aber in Russland waren sie keine Helden. Was wiederum ein irreführendes Bild von Russland und auch der russischen Innenpolitik vermittelt in gewisser Weise. Wenn die Leute ein Beispiel (für Opposition in Russland, Anmerkung der Redaktion) haben, dann denken sie als Nächstes, dass sie Putins Regime stürzen werden. Was nicht möglich ist.
Ich meine: Das Hauptziel von Putins Regime ist es, die Macht im Kreml zu behalten - und in Russland gibt es keine Frauen an der Macht. Die Grundidee ist also, Frauen von der Macht fernzuhalten. Auf diese Weise ist es sehr logisch, dass sie Frauenfeindlichkeit einsetzen, denn was ist das einflussreichere Instrument gegen die Stärkung von Frauen als der Einsatz von Frauenfeindlichkeit?
"Kriege brechen nicht einfach so aus"
tagesschau.de: In einem Land ein so kriegsfreundliches und frauenfeindliches Klima aufzubauen, das geschieht nicht über Nacht. Dennoch war man im Westen überrascht vom Kriegsausbruch.
Oksanen: Ja, und wenn sie dort mehr verfolgt hätten, was mit den Frauenrechten, den Rechten der sexuellen Minderheiten in Russland passiert, wären sie nicht so überrascht gewesen.
Wenn man an all den Genozid auf der Welt denkt, in der Weltgeschichte, dann begann es immer mit den schwindenden Rechten bestimmter Gruppen. Ich meine, Kriege brechen mit Sicherheit nicht einfach so aus. Davor gab es lange Vorbereitungen.
Wenn man überrascht wird von einer Invasion oder von dem Ausbruch eines Krieges - einer groß angelegten Invasion in diesem Fall -, dann hat man die Entwicklung innerhalb anderer Länder nicht verfolgt.
Und obwohl Russland der Ukraine den Krieg nicht offiziell erklärt hat, ist er da. Ohne die Vorarbeit wäre es unmöglich, so zu handeln, wie Russland sich verhält. Und ich habe das Gefühl, dass, nun ja, in westlichen Ländern und Russlandbeobachtern die sogenannten klassischen Vorarbeiten für eine Invasion nicht gesehen wurden.
tagesschau.de: Auch die Gewalt gegen die Frauen sei vorbereitet worden, sagen sie. Und Sie sprechen bei dieser Form von Gewalt, die auch nach Informationen der UN strukturiert und als Kriegswaffe von russischen Soldaten in der Ukraine eingesetzt wird, von einer Form des Genozids. Wie begründen Sie das?
Oksanen: Wenn Sie dem Muster folgen und wenn Sie die Aussagen von Augenzeugen oder die Aussagen der Opfer lesen, dann gibt es Muster, die passiert sind. Zum Beispiel sagen russische Soldaten zu Frauen: "Wir werden dich vergewaltigen, dann willst du keinen Sex mehr mit einem ukrainischen Mann haben." Oder: "Wir werden dich so lange vergewaltigen, bis du keine Kinder mit ukrainischen Männern haben kannst, du kannst keine ukrainischen Kinder haben."
Außerdem werden Männer kastriert. Das ist eine sehr offensichtliche Methode, es gibt auch hier Muster. Viele der Sexualverbrechen sind solche Verbrechen, dass sie zum Beispiel die Ukrainer daran hindern, ein normales Familienleben zu führen.
"Viele sowjetische Praktiken losgeworden"
tagesschau.de: Dazu kommt der Krieg an sich. Da ist es schwierig, ein normales Familienleben zu führen. Wir beobachten auch, dass Frauen jetzt zu traditionellen Rollen zurückkehren, weil sie sich um Kinder kümmern müssen.
Oksanen: Trotzdem hat sich etwas geändert. Wenn man bedenkt, wie viel mehr Platz und wie viel mehr Stimmen und unterschiedliche Möglichkeiten sie haben und wie viele Frauen in der Armee sind. Ich finde das ziemlich bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass das Niveau der Gleichstellung in der Ukraine in den 1990er Jahren das gleiche war wie in Russland.
Aber natürlich: Jeder Krieg bedeutet, dass mehr Männer kämpfen, und mehr Frauen sich zu Hause um Kinder, Alte und so weiter kümmern. Genau das passiert. Aber dieser Krieg ist eine ganz besondere Art von Krieg und unterscheidet sich erheblich von vielen anderen Kriegen.
Eine Sache ist natürlich, dass sich die Ukraine seit 2014 im Krieg befindet. Wenn man darüber nachdenkt, haben Frauen, die daran beteiligt waren, in den Kampf ziehen wollten, offensichtlich die Ungleichheit in den Streitkräften bemerkt. Aber sie wollten die Dinge ändern.
Tatsächlich gelang es ihnen, viele sowjetische Praktiken loszuwerden und auch in die Armee zu wechseln. Und warum ist es wichtig, mehr Frauen in die Armee einzubeziehen? Weil: Je mehr Frauen in der Armee sind, desto weniger sexuelle Gewalt gibt es zum Beispiel. Also je mehr Frauen involviert sind, desto weniger sexuelle Gewalt gibt es. Und ich hoffe, dass die Ukraine auch anderen Armeen in der Welt den Weg weist.
Das Interview führte Susanne Petersohn, ARD-Studio Kiew.