Menschen halten im Dunklen eine Regenbogenfahne hoch.

Nach der Türkei-Wahl Wie die LGBTQ-Szene unter Druck steht

Stand: 02.06.2023 10:12 Uhr

In der Türkei machen sich Beobachter Sorgen um queere Menschen. Erdogan und seine Regierung hatten im Wahlkampf immer wieder heftig gegen sie Stimmung gemacht. Nach seinem Wahlsieg könnte sich ihre Lage weiter verschlechtern.

Ceytengri sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa der Wohngemeinschaft. Sie hat türkischen Tee aufgebrüht und dreht sich eine Zigarette. Sie hatte die Hoffnung auf einen Machtwechsel in der Türkei nicht aufgegeben. Nun ist die Stichwahl wenige Tage her.

Ceytengri ist 25. Sie definiert sich als genderfluid, das heißt, ihre Geschlechtsidentität ist fließend. Als Musikerin und Drag-Performerin ist sie ein aktiver Teil der queeren Szene in Istanbul. Das Wahlergebnis setzt ihr zu - wie vielen. "Die Freundinnen, die zur Zeit happy sind, die sind entweder zutiefst spirituell, oder auf Anti-Depressiva, anders kann man die Realität nicht ertragen", sagt sie.

Ceytengri

Ceytengri sitzt in ihrer Wohnung in Istanbul auf einem Sofa. Die 25-Jährige definiert sich als genderfluid.

Erdogan nennt Queere "pervers"

In dieser Realität betreiben die AKP-Regierung und Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Langem eine harte Rhetorik gegen die LGBTQ-Community. Selbst am Wahlabend, im Moment des Triumphs, beschimpft Erdogan die unterlegene Opposition - sie seien alle "LGBT".

"Das ist sehr beängstigend", sagt Ceytengri. "Fast das erste, was er sagt, ist LGBT." Im Wahlkampf bezeichneten Erdogan und sein Innenminister Süleyman Soylu queere Menschen immer wieder als "pervers" und als "Terroristen".

LGBTQ-Szene als Gefahr für Familie gesehen

Religiös argumentieren sie dabei nicht, sagt Yildiz Tar im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul. Sie arbeitet für die Initiative KAOS GL, die sich für die Rechte queerer Menschen einsetzt.

"Selten bis gar nicht ist zu hören, die LGBT+ Community begehe Sünde. Denn die Antwort wäre ja: 'Warum interessiert euch das, die Sünde geht ja nur auf unsere Rechnung?'", sagt Tar. "Stattdessen nehmen sie die Identität von Menschen und ächten sie als gefährliche Ideologie, deren grundlegendes Ziel darin bestehe, die Familie zu zerstören."

Und die Familie, sagt Erdogan, sei heilig. Zu Beginn seiner Amtszeit als Ministerpräsident 2002 hatte Erdogan sich als LGBTQ-freundlich gezeigt. Rechte von Homosexuellen müssten geschützt werden.

Polizeigewalt statt Pride-Demo

Das scheint Vergangenheit. Homosexualität ist in der Türkei zwar nicht verboten und es gibt Anti-Diskriminierungsgesetze, aber die Türkei wird über die Jahre autokratischer - und so nehmen auch die Repressionen zu.

Pride-Demonstrationen in den großen Städten sind seit 2015 verboten. Wer dennoch zum Termin auf die Straße geht, wird regelmäßig mit Polizeigewalt vertrieben und verhaftet. Das sei Strategie, sagt Tar.

"Die LGBT-Menschen sollen jede Art von Gewalt erfahren, aber daran gehindert werden, sich organisiert zu wehren. Wir verprügeln euch und wenn ihr jammert, gibt's nochmal Prügel!' - lautet die Botschaft."

Diskriminierung und Gefährdung im Alltag

In der Rangliste der LGBTQ-Rechte in Europa der Initiative ILGA* liegt die Türkei auf dem vorletzten Platz. Die Initiative Trans Respect* zählt zwischen 2008 und 2022 insgesamt 62 ermordete trans Personen in der Türkei. Die Gesellschaftliche Zustimmung zu Themen wie der Ehe für alle oder dem Schutz von trans Menschen ist im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich.

Das alles spürt auch Ceytengri in ihrem Alltag. Sie fühle sich oft bedroht, selbst in der Gegend, wo sie wohnt. Es sei nicht nur schwerer, als queere Person eine Wohnung zu finden. Auch Orte für queere Kunst oder für politische Organisation würden immer weniger.

Egal wen man dieser Tage fragt: Alle politischen Beobachter befürchten eine Verschlechterung der Lage queerer Menschen in der Türkei. Erdogan hat die beiden extremen islamistischen Parteien Hüda Par und Yeniden Refah Partisi in seine Allianz aufgenommen, um den Wahlsieg zu sichern. Beide vertreten gesellschaftlich radikale Positionen. Außerdem eigne sich Queerfeindlichkeit gut, um von anderen Problemen, wie Inflation und der schwachen türkischen Lira, abzulenken.

Dem Kreislauf entkommen?

Auch Yildiz Tar ist pessimistisch. "Bisher hat man der LGBT+ Community gerade noch erlaubt, zu atmen. Jetzt scheint der Regierung selbst das zuviel des Guten zu sein", sagte sie. Am beängstigendsten sei es, nicht zu wissen, wie es weitergeht. "Sie können jeden Moment mit einem neuen Verbot kommen. Wir würden dagegen demonstrieren, das würde niedergeschlagen, wir würden wieder demonstrieren - ein ewiger Kreislauf."

Um diesem Kreislauf zu entkommen, gibt es nur wenige Möglichkeiten: Die sexuelle Identität zu verstecken - oder ins Ausland zu gehen. Über Letzteres haben Ceytengri und viele ihrer Freundinnen zumindest schon mal nachgedacht.

Benjamin Weber, ARD Istanbul, 02.06.2023 08:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 02. Juni 2023 um 09:31 Uhr.