Nach Ausschreitungen Kommt die Autonomie für Korsika?
Nach schweren Ausschreitungen reist Frankreichs Innenminister Darmanin nach Korsika, um über die geforderte Autonomie zu verhandeln. Auf der Insel herrschen Skepsis und Entschlossenheit, es gibt aber auch Hoffnung.
"Man muss gewalttätig sein, damit man gehört wird. Das ist doch nicht normal!" Da müsse erst ein Mann im Koma liegen, bevor man reagiere, sagt eine korsische Demonstrantin. Sie meint Yvan Collona, oder, wie ihn die Korsen, nennen Yvan Collon(a).
Der korsische Separatist sitzt im südfranzösischen Arles eine lebenslange Gefängnisstrafe für den Mord am korsischen Präfekten Claude Erignac 1998 ab, als ihn Anfang März ein islamistischer Mitgefangener vor laufenden Kameras schlägt und würgt, erst nach acht Minuten greift das Personal ein. Erst danach hebt Frankreichs Premier Colonnas Sonderstatus als besonders gefährlicher Gefangener auf. Ein humanitärer Akt, damit die Familie zu ihm könne, sagt Paris. Purer Zynismus, heißt es auf Korsika.
Frankreichs Innenminister Darmanin erwartet schwierige Verhandlungen auf Korsika.
Verhandlungen trotz - oder wegen der Gewalt?
Seitdem Aufruhr, Molotow-Cocktails gegen Wasserwerfer, brennende öffentliche Gebäude, verletzte Studenten, verletzte Polizisten. Rund 60 hat Innenminister Gerard Darmanin gezählt. Wenn es ab jetzt ruhig bleibt, will er verhandeln. Kleine Geste: Er spricht Colonnas Namen korsisch aus. Doch kommt er im richtigen Moment?
"Ja, es gab den Mordversuch an Yvan Collona und seit Tagen deshalb schwere Ereignisse auf Korsika", gib Darmanin zu. "Ich möchte vor Ort vor allem die Polizisten unterstützen - aber auch den Wunsch Korsikas erfüllen, über institutionelle Reformen zu sprechen."
Präsident Emmanuel Macron habe schon 2018 das Wort korsisch in die Verfassung aufnehmen wollen, so Aarmamin, doch die Reform sei im Parlament gescheitert. Für Korsika würden zudem elf Finanzsonderregeln gelten. Und wegen der Sache im Gefängnis habe man drei Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Erste Zugeständnisse schon vor Jahren
Darmanin stellt sich auf lange Verhandlungen ein: "Wir müssen über alles reden, andere Etappen, bis hin zur Autonomie,. Korsika habe unter Präsident François Hollande schon viele Kompetenzen bekommen, zum Beispiel bei der Müllentsorgung oder Wohnungswirtschaft, und nutze sie gar nicht voll. "Da müssen wir vielleicht helfen. Autonomie geht auch mit unserer jetzigen Verfassung - siehe Französisch-Polynesien." Diese sei völlig in der Französischen Republik integriert, habe aber Sonderwirtschafts- und Finanzrechte.
Auch die Überstellung Colonnas und zweier Mittäter auf die Insel ist plötzlich möglich. Ist das schon der Sieg, wird der Chef der korsischen Territorialverwaltung, Gilles Simeoni, im französischen Nachrichtenradio gefragt. "Nein, noch nicht. Weder für mich noch für das korsische Volk", antwortet Simeoni. "Aber es ist wichtig, dass der Innenminister wohl im Namen des Präsidenten sagt, er sei bereit zur Debatte, die historisch werden könnte."
Hoffnung auf weitreichende Autonomie
"Ich fordere seit einem halben Jahrhundert einen vollen Autonomie-Status", sagt Simeoni weiter. Der sei Konsens auf der Insel: "Bei den letzten Territorialwahlen haben bei uns fast 70 Prozent die nationalistische Liste gewählt. Und die Wahlbeteiligung war doppelt so hoch wie im französischen Durchschnitt."
Polizei, Armee, Justiz sollten zentral bleiben. Finanz- und Wirtschaftsfragen, Soziales, die eigene Sprache bei Korsika liegen. Die Insel hat schon Sonderrechte, darf ihre Airports und Häfen selbst verwalten. Aber Korsika möchte auch Gesetze erlassen und eine Steuer auf Zweitwohnungen erheben. Die machen rund 40 Prozent des Wohnbestandes aus. Korsische Jugendliche finden schwer Wohnraum und sind häufiger arbeitslos als Gleichaltrige in Festlandfrankreich.
Konflikt flammt alle 50 Jahre auf
"Wir wollen besonders mit der Jugend eine emanzipierte, demokratische, verantwortungsbewusste Gesellschaft auf Korsika aufbauen, die ein neues Vertrauensverhältnis zum Staat hat", sagt Simeoni. "Es gab einen Zyklus von 50 Jahren der Auseinandersetzungen, Forderungen. Der Tag heute muss der Start sein für einen neuen Zyklus des Friedens und der politischen Lösung."
Korsische Separatisten haben jahrzehntelang mit Gewalt für die Unabhängigkeit von Frankreich gekämpft, bis 2014 die Untergrundorganisation FLNC die Waffen niederlegte und gemäßigte Nationalisten politisch an Bedeutung gewannen. Und heute?
Autonomie ja, volle Unabhängigkeit nein
Der korsisch-stämmige Politologe und Professor an der Universität Paris-Sorbonne, Arnaud Benedetti, hat den Überblick: "Schauen Sie sich die Umfragen an, die Korsen lehnen eine Unabhängigkeit fast vollständig ab. Mehr als die Franzosen insgesamt, die sind zu einem Drittel dafür." Eine Autonomie aber wolle eine knappe Mehrheit der Franzosen und eine große Mehrheit der Korsen. "Übrigens haben während der Demos Autonomisten sogar die Erinnerungstafel des ermordeten Präfekten vor einer Schändung beschützt."
Benedetti gibt dem Präsidenten eine Mitschuld an der Lage: "Macron hatte nicht die politische Kultur, die korsische Frage zu regeln. Er hat enttäuscht, denn 2017 ist er mit einem Projekt der Dezentralisierung angetreten." Alles sei jedoch extrem vertikal organisiert geblieben.
"Dazu kamen ungeschickte Gesten, die den Graben zu Korsika vergrößert haben", beklagt Benedetti. "Aber immerhin zeigt die Pariser Exekutive nun erstmals seit fünf Jahren den Willen, eine neue Etappe in den Beziehungen anzugehen. Das kommt etwas spät, am Ende der Präsidentschaft. Man muss extrem vorsichtig sein, aber es kann die Spannungen mildern."
Die kommenden Tage und Wochen werden zeigen, ob Korsika in den Wahlkampf geraten ist - oder in einen neuen Zyklus des Friedens.