EU und Russland "Jetzt zeigt sich, dass wir recht hatten"
Warnungen vor Russlands Absichten verhallten bis zum Ukraine-Krieg in der EU weitgehend wirkungslos. Jetzt fühlen sich Polen und Balten auf schreckliche Weise bestätigt. Hat die EU ein Hierarchie- und Wahrnehmungsproblem?
"Wir kennen die Russen besser, schließlich sind wir seit über 500 Jahren Nachbarn. Unsere Antennen sind empfindlicher, die schlagen bei Gefahr schneller an", betont Radoslaw Sikorski. Als polnischer Außenminister warnte er regelmäßig vor Russlands Aggression. Seine Amtszeit endete im September 2014, kurz nachdem Russland die Krim annektiert hatte.
Auch vor Ausbruch des jetzigen Ukraine-Krieges wurden die Warnungen zahlreicher Politiker aus Polen und dem Baltikum oft beschwichtigt. "Im Westen denken viele, dass uns 40 Jahre sowjetische Okkupation traumatisiert haben und wir daher zur Übertreibung neigen, aber jetzt zeigt sich, dass wir recht hatten", sagt der heutige Europaabgeordnete Sikorski mit einem Lächeln.
Politikwissenschaftlerin Annika Hedeberg glaubt jedoch nicht, dass der Westen den Osten nicht ernst nimmt. Für sie hat Europa zulange wirtschaftlichen Interessen den Vorrang gegeben: "Zahlreiche EU-Staaten dachten, dass es möglich wäre, die wirtschaftlichen Verbindungen von den politischen zu trennen."
An diesem Prinzip habe Europa auch festgehalten, als Russlands Aggression zunahmen. Der Tschetschenienkrieg, die Bombardements in Syrien, die Annektierung der Krim, der Mordanschlag am Agenten Skripal, die Einmischung Russlands in westliche Wahlen. "Die Verurteilung blieb schwach, die paar erlassenen Sanktionen funktionslos, und die diplomatischen Nettigkeiten und Wirtschaftsbeziehungen wurden wieder aufgenommen", betont die in Brüssel arbeitende Finnin. Zulange habe Europa wie ein Schlafwandler die Augen verschlossen.
Scheu vor dem nächsten Schritt
Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa jedoch wachgerüttelt. Die Schnelle und Härte der europäischen Sanktionen müsse bei Putin "für Überraschung gesorgt haben", konstatiert der Osteuropaexperte Andreas Umland. Aber auch wenn die Reaktion der EU diesmal entschiedener ausfällt, scheut sie bislang weiter, den für Russland so lukrativen Energiesektor zu sanktionieren.
Dies sei, so Umland, jedoch notwendig, um Putin in die Schranken zu weisen: "Deutschland spielt dabei eine entscheidende Rolle. Folgenreiche Fehlentscheidungen vor und während Merkels Amtszeit haben die deutsche Ostpolitik auf einen falschen Pfad gebracht."
Entscheidend dabei sei Deutschlands energiewirtschaftliche Verflechtung mit Russland, die sich nach der Annektierung der Krim sogar intensivierten, schließlich schloss Deutschland 2015 den Nord-Stream-2-Vertrag ab.
Streit über EU-Energieembargo
Seit Wochen wird in der EU heftig über ein russisches Energieembargo gestritten. Polen ist dabei der lauteste Verfechter einer strikten Linie: Warschau fordert den sofortigen Ausstieg aus allen Gas-, Öl- und Kohleimporten mit Russland. Doch momentan finde sich nicht einmal für die partielle Sanktionierung des russischen Energiesektors eine Mehrheit in der EU, klagt Politikwissenschaftlerin Hedeberg:
Öl ist ein Rohstoff, der frei auf dem Weltmarkt zu kaufen ist. Ein Ölembargo hätte daher seit dem ersten Tag auf dem Tisch liegen sollen. Unglaublich, dass darüber immer noch nicht verhandelt wird. Das Gleiche gilt für Kohle, auch die kann auf dem Weltmarkt frei gehandelt werden. Bei Gas ist es etwas schwieriger. Die Abhängigkeit Deutschlands verschärft sich dadurch, dass es sich nicht einfach vom russischen Gas abwenden kann, weil es aus einer Pipeline kommt.
Ein Gasembargo würde neben Deutschland Ungarn, Österreich und Italien besonders hart treffen. Sie gehören mit den Niederlanden - die wiederum viel Öl von Russland importieren - zu den Ländern, die sich gegen harte Sanktionen im Energiebereich aussprechen. Schließlich sind höhere Energiepreise und das Ausbremsen der eigenen Wirtschaft etwas, was keine Regierung seinem Land gerne aufbürden will.
Polen will weg von russischer Kohle
Die Polen wollen diesen Preis jedoch zahlen. Ihre Gas- und Ölimporte sind im Vergleich zu Deutschland gering. Jedoch importieren sie viel Kohle aus Russland. Sollte es bis Mai kein europäisches Kohleembargo geben, plant die Regierung unilateral aus den Lieferverträgen mit Russland auszusteigen. "Wir wollen ein Beispiel sein und sind bereit den Preis zu zahlen, denn die Situation in der Ukraine erfordert das", erklärt ein polnischer Diplomat.
In den kommenden Wochen werden sich die ost- und westeuropäische EU Staaten erneut die Frage stellen müssen, ob sie bereit sind, ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland aufzugeben, um so die Kriegsverbrechen in der Ukraine zu stoppen. Denn "Sanktionen, die funktionieren und nichts kosten, gibt es nicht", betont Ex-Außenminister Sikorski.
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