Arbeiter entfernen 2022 in Narva (Estland) einen Panzer der Roten Armee, der als Kriegsdenkmal gedient hatte
weltspiegel

Estland Das heikle Verhältnis zu Russland

Stand: 28.04.2024 08:13 Uhr

Viele Bürger in Estland haben weiter enge Verbindungen nach Russland. Doch die gemeinsame Geschichte belastet das Zusammenleben ebenso wie die Debatte um die Rolle der Landessprache. Das zeigt sich auch im Grenzort Narva.

Von Margareta Kosmol, NDR

Nur ein Fluss trennt die europäische Stadt Narva von Russland. An beiden Ufern ragen imposante Burgen auf. Am westlichen Ufer steht die Hermannsfeste, drei Fahnen symbolisieren: Hier ist noch Estland, hier ist die Europäische Union, hier ist noch NATO-Gebiet.

Am gegenüberliegenden Ufer in der Stadt Iwangorod weht dagegen die russische Fahne im Wind. Verbunden werden die beiden Städte von einer Brücke mit dem Namen "Freundschaft". Doch davon ist mittlerweile wenig zu spüren - trotz des Namens ist die Grenze seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine für Autoverkehr geschlossen. Über die Brücke geht es momentan nur noch zu Fuß.  

Die Russen von Narva

M. Kosmol, J. Morgenstern, NDR, Weltspiegel, 28.04.2024 18:30 Uhr

Was die Erinnerung prägt

Narva war zu Sowjetzeiten ein bedeutender Industriestandort. Aus der gesamten Sowjetunion kamen Arbeiter und Arbeiterinnen, um in der Textilfabrik zu arbeiten - ein Arbeitsplatz für mehr als 10.000 Menschen, darunter die Familie von Lena Kase. Als 15-jähriges Mädchen fing sie in der Fabrik an. Erst als Weberin, später als Putzkraft: "Die Arbeit war hart, wir haben in drei Schichten gearbeitet. Aber das Gute war: Du wusstest, morgen wirst du auch noch Arbeit haben, ein Dach über dem Kopf und niemand nimmt dir deine Wohnung weg."

Heute steht die Textilfabrik leer, aber die 66-Jährige spaziert gerne um das eingezäunte Gelände, in Erinnerung an die Zeit, die für sie Sicherheit bedeutete. Estnisch spricht Kasa nur ein paar Worte. Sie hatte mal angefangen, Estnisch zu lernen, aber da ihr Umfeld nur Russisch spricht, vergaß sie die Sprache wieder. 

Noch heute sprechen in Narva mehr als 95 Prozent der Menschen vorrangig russisch. Aus den Autoradios erklingen russische Lieder. Kellner begrüßen Restaurantgäste auf Russisch. Trotzdem betonen die Menschen hier: Wir gehören zu Estland und die europäischen Werte sind uns wichtig.  

Aber auch eine Verbundenheit zur russischen Seite ist zu spüren. Die meisten Menschen in Narva haben Verwandte auf der anderes Seite des Flusses in Russland. Auch der russischen Kultur fühlen sie sich verbunden. 

Geschichte als trennender Faktor 

Heute belastet die Geschichte der Region das Zusammenleben, vor allem seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Viele Esten fordern, sowjetische Symbole aus dem Stadtbild zu entfernen. Als das "Sowjetpanzer"-Denkmal 2022 aus Narva weggebracht wurde, gab es viel Aufregung. Es stand an dem Punkt, an dem die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg die deutschen Truppen aus der Stadt vertrieb. Vor allem die ältere Bevölkerung von Narva verbindet mit den alten Sowjetdenkmälern lebhafte Feiertage aus der Jugend. 

Auch Maria Smorshevskihh-Smirnova, die Leiterin des Narva-Museums, sorgte mit einer Aktion für Empörung. 2022 brachte sie die Lenin-Statue aus der Stadt heraus und erntete dafür viel Kritik von den Bewohnern. Smorshevskihh-Smirnova findet aber, dass dieser Schritt wichtig war: "Wir müssen verstehen, dass unsere Stadt heute überhaupt nicht mit Lenin zusammenpasst, und ich bin sehr glücklich, dass wir diesen Schritt nun gegangen sind, den man bereits in den 1990er-Jahren hätte gehen müssen."

Mit ihren Ausstellungen möchte Smorshevskihh-Smirnova die Bevölkerung Narvas über die Vergangenheit der Stadt aufklären. Sie spricht von einer Koexistenz zweier Sichtweisen: "Große Teile der russischen Bevölkerung sehen die sowjetische Besatzung als Befreiung von den Nazis. Aber sie müssen verstehen, dass die estnische Bevölkerung das nicht als Befreiung, sondern klar als Okkupierung Estlands von der Sowjetunion sieht."

Smorshevskihh-Smirnova findet, dass russische Propaganda das Bild der Befreiung durch die Sowjets stützt. Viele Bewohner Narvas informieren sich über russische Medien. 

Sprache als Streitpunkt

Ihre Sprache, das Russische, ist zwar durch die Verfassung geschützt. Doch Estland will die Verbreitung der Landessprache noch mehr fördern, und das macht vielen Bewohnern von Narva Sorgen. Erlaubte Estland bislang noch den Unterricht auf Russisch, soll die Schulbildung ab dem 1. August 2024 schrittweise ganz auf Estnisch umgestellt werden.

In einer Stadt wie Narva ist das ein großes Problem. Etwa 150 Lehrkräften droht die Entlassung, weil sie kein Estnisch sprechen - eine hohe Zahl bei rund 50.000 Einwohnern. 

  

Eine Lehrerin beruhigt

Diese Sorgen teilt Aljona Kordontschuk nicht. Sie ist Schulleiterin an einer der wenigen estnischsprachigen Schulen in Narva. Sie ist überzeugt, dass die Kinder das gut meistern werden, die Eltern sollten nicht in Panik verfallen: "Es ist gut, dass unsere Kinder sich noch sicherer fühlen werden, wenn sie an die Unis kommen. Viele Schulabgänger gehen momentan ins Ausland. Nicht, weil sie so reich oder ambitioniert sind, sondern weil sie kein Estnisch können bis zur 12. Klasse, dafür aber Englisch."

Viele Eltern kritisieren, dass der Druck, die Sprache zu lernen, erst seit 2022 angestiegen ist. Die Umsetzung ginge nun zu abrupt. Schon nach der Erlangung der Unabhängigkeit hätte es mehr Estnisch in den Schulen geben müssen, finden sie. 

Kasa, die frühere Textilarbeiterin, fühlt sich dennoch auch heute wohl in Narva. Mit der Politik der estnischen Regierung ist sie zwar unzufrieden, möchte aber nicht genauer darüber sprechen. Sie ist glücklich darüber, dass ihr Sohn in Narva geblieben ist und eine Arbeit gefunden hat.

Die meisten Kinder ihrer Freundinnen seien wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten aus Narva weggezogen, in die Hauptstadt Tallinn. Dort hätten sie schnell Estnisch gelernt.   

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 28. April 2024 um 18:30 Uhr.