30 Jahre Budapester Memorandum "Ohne dieses Papier gäbe es den Krieg nicht"
Genau 30 Jahre ist es her, dass die Ukraine mit der Unterzeichnung des Budapester Memorandums auf Atomwaffen verzichtet hat. Viele Ukrainer halten das Papier für einen Riesenfehler, so auch ein Ex-Offizier.
Valeryj Kusnezow fährt in einem kleinen engen Aufzug rund 40 Meter hinunter zu seinem alten Arbeitsplatz. "Das hier war für die Ewigkeit gedacht und jetzt herrscht hier Grabesstille", sagt der pensionierte Raketeningenieur, als der Aufzug in die Tiefe ächzt.
Zu Sowjetzeiten lagerte in der heutigen Ukraine ein tödliches Waffenarsenal: unter anderem Interkontinental-Raketen sowie mehrere tausend atomare Sprengköpfe für strategische und taktische Raketen. Einer der Standorte war Perwomajsk, rund 300 Kilometer südlich von Kiew, wo Kusnezow jahrzehntelang diente.
"Ich hätte den Knopf gedrückt"
Das weitläufige Gelände der früheren Atomraketenbasis der 46. Raketendivision ist seit mehr als 20 Jahren ein Museum, in dem sich Ex-Militärs wie der agile grauhaarige Ex-Offizier Kusnezow engagieren. In der alten Kommandostation tief unter der Erde leuchtet die rote Lampe und Kusnezow simuliert einen Raketenstart. "Eins, zwei, drei, Start", zählt er vor.
"Sie haben den Befehl bekommen und machen sich daran, diesen auszuführen", erklärt er aufgeräumt. "In diesem Fall heißt das, in 30 Sekunden geht die Rakete los." Wäre zu Sowjetzeiten ein entsprechender Befehl aus Moskau gekommen, dann hätte er einen der Knöpfe gedrückt. "Man hat uns das so erklärt: Wenn wir einen Abschussbefehl erhalten, dann fliegt bereits eine Rakete der anderen in unsere Richtung. Die Flugzeit von Amerika aus sind 22 bis 28 Minuten. Von Europa aus bis zu 12 Minuten, heute sogar noch weniger, weil es bereits Hyperschallraketen gibt." Das habe bedeutet, dass die Knöpfe nach einem entsprechenden Befehl aus Moskau hätten gedrückt werden müssen.
Ein Knopfdruck in der alten Kommandostation hätte einen Atomrakete abgefeuert. Hier ein Nachbau im Museum.
1982 - eine heikle Situation
Das Ziel eines sowjetischen Atomschlags hätte Kusnezow trotz leitender Funktion damals nicht im Voraus erfahren. Ein finaler Knopfdruck stand am Ende einer langen Befehlskette. Der Pensionär erinnert sich an eine heikle Situation im Jahr 1982: Damals sei minutenlang unklar gewesen, ob ein Atomschlag erfolgen soll oder nicht. Alle Telefone seien belegt und weder die Kommandozentralen der strategischen Raketentruppen noch die strategische Luftfahrt oder die U-Boot-Leute erreichbar gewesen. "Das Erste, was man daraus folgern konnte war: Es ist Krieg", sagt Kusnezow.
Oben in den Museumsräumen steht er vor einer großen blau-gelben Wand mit den Standorten und Raketentypen der damaligen 43. Raketenarmee in der Ukraine. "Alle Offiziere waren zu 98,5 Prozent Kommunisten" - doch Ehre und sein Gewissen habe er nicht verkauft, beteuert er.
"Wir brauchen eine NATO-Mitgliedschaft oder wieder Atomwaffen"
Am 5. Dezember 1994 verlor Kusnezow seinen Job. Der damalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma unterschrieb das Budapester Abkommen, in dem sich Kiew verpflichtet abzurüsten und auf Atomwaffen zu verzichten. Die Ukraine gab daraufhin alle atomaren und viele nicht atomaren Waffen an Russland ab. Im Gegenzug garantierten die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine Sicherheit.
Das Memorandum sei das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde, drückt Kusnezow aus, was viele in der Ukraine heute darüber denken. Beim Gang über das Museumsgelände kann er stundenlang über schwarzbraune Atom-Raketenröhren oder die furchterregend große Interkontinentalrakete "Satan" mit einer Reichweite von 15.000 Kilometern referieren. All das aufzugeben sei politisch naiv gewesen, konstatiert der Senior. Sein Wunsch: "Wir brauchen eine Aufnahme in die NATO oder die Rückkehr zu dem, von dem wir uns getrennt haben: die nuklearen Waffen in der Ukraine erneuern." Wenn die Ukraine zumindest über taktische Atomwaffen verfügt hätten, "gäbe es den Krieg heute nicht", ist er überzeugt.
Seit dem Beginn der Invasion hat Russland rund 14.000 Drohnen und mehr als 9.000 Raketen auf das Nachbarland abgefeuert. Darunter auch welche, die mit ukrainischem Know-how konstruiert wurden, bestätigt Kusnezow.
Auch Außenminister hält Memorandum für einen Fehler
Am Rande des Treffens der NATO-Außenminister diese Woche Brüssel hält diese Woche der ukrainische Außenminister Andrjy Sibiyha vor Journalistinnen und Journalisten eine Mappe in die Höhe mit dem Dokument des Budapester Memorandums. Dieses habe weder die ukrainische noch die transatlantische Sicherheit garantiert und sei ein Fehler gewesen, so der Minister. Er forderte stärkere Entscheidungen und mehr Solidarität der Partner. Frieden für die Ukraine sei nur unter der Garantie denkbar, dass Russland nicht mehr angreifen könne - sprich mit einem NATO-Beitritt der Ukraine.
In diesem Zusammenhang werden mehrere Modelle diskutiert, doch die Ukraine besteht auf eine offizielle Einladung für das Land in den international anerkannten Grenzen von 1991, also inklusive der russisch besetzten Gebiete.
Auch russischer Angriffskrieg im Museum
Zurück auf dem Raketenmuseumsgelände zeigt Kusnezow auf rostige Raketen-Ladelaster, zwischen denen auch ausgebranntes russisches Kriegsgerät von heute liegt. "Auch das wollen wir zeigen", sagt er und winkt ein paar Kollegen, die erbeutete kaputte russische Panzer verladen.
"Früher war der Westen mein Feind", erklärt der 70-Jährige, " und heute will ich, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird". Den Groll auf Leonid Kutschma merkt man bei ihm auch 30 Jahre nach der Unterschrift unter das gescheiterte Budapester Memorandum. Die damalige Führung der Ukraine habe damit sogar ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk und den ukrainischen Staat begangen.
"Warum hat Russland nicht verzichtet, nicht China, nicht die Vereinigten Staaten? Nur die Ukraine?" Und eine Antwort schiebt er gleich hinterher: "Weil die gesamte Führung unseres Landes dem Kreml treu ergeben war."