Esskultur Wie Frankreich die Artischocke retten will
Die Artischocke ist bei jungen Menschen auch in Frankreich nicht mehr so beliebt. Das soll sich ändern. Das Gemüse hat eine eigene Bruderschaft, die zu kulinarischen Festen ihre Botschafter aussendet.
"Die Bruderschaft der Artischocke aus Saint-Pol", ruft der Pfarrer in der Kathedrale von Meaux bei Paris. Die anderen Anwesenden schenken der gastgebenden Bruderschaft zu ihrem Brie-Käse-Fest Köstlichkeiten. Nur André Hadrot steht mit leeren Händen da. "Die Saison ist doch zu Ende", entschuldigt er sich.
Hadrot trägt einen grün-violetten Kaftan und stützt sich auf ein Banner mit aufgenähter Artischocke. Mit weißem Rauschebart und Strohhut sieht er aus wie der Maler Claude Monet.
Seine Bruderschaft der Artischocke aus Saint-Pol-de-Leon im Finistère wurde vor 25 Jahren gegründet. Hadrot ist ihr Botschafter für den Großraum Paris und die Normandie. "Wir müssen überall sein, auch wenn auf dem Montmartre Weinernte ist", sagt er. "Wir sind immer sehr gefragt. Wir wollen den Leuten die Artischocke nahebringen und für sie werben."
Artischocke eher bei Älteren beliebt
Gerade hat Hadrot mit den Gastgebern ausgehandelt, ein Rezept zu erarbeiten, in dem der Rohmilch-Brie auf die rustikale Artischocke trifft. Als ehemaliger Gastronom und Hobbykoch weiß er, wie gesund sie mit ihren Antioxidantien ist und wie gut für die Leber. Doch die meisten Konsumenten sind Rentner wie er.
In Schulkantinen steht Artischocke selten auf dem Menü. Fast Food geht schneller als Artischocken-Zupfen. Auch wird in den Familien eher die Vorspeise als das Dessert weggelassen. So isst ein Franzose nur noch rund ein Pfund Artischocke im Jahr, ein Italiener acht Kilo.
Es stimmt ihn traurig, dass die Jugend nicht so auf Artischocke steht: "Ja, leider. Wollen sie dafür kein Geld ausgeben? Ist es eine Frage der Zeit oder sieht man sie zu selten in Werbespots? Drei Argumente für die Artischocke: Sie ist preiswert, schmeckt gut und steckt voller Vitamine."
Artischocken für 1,50 Euro das Stück an einem Marktstand
300 Arbeitsstunden pro Hektar
Doch Anbau und Absatz sinken. Was keinen Abnehmer findet, wird an die Tafeln gespendet oder verfüttert. Manchmal ist es die halbe Tagesernte. Dabei stecken Artischockenzüchter 300 Arbeitsstunden pro Jahr in jeden Hektar, Getreidebauern nicht mal zehn. Bei den jüngsten Bauernprotesten waren sie deshalb dabei. Auch weil Trockenheit und Dumping-Importe ihrer Kultur zu schaffen machen.
"In der Hochsaison im Juli, wenn wir unser Fest feiern, kosten drei Stück vielleicht 1,50 Euro. In Paris sind es eher 1,50 Euro pro Stück", sagt Hadrot. Oft erzielt das mattgrüne Blütengemüse nur 20 Cent pro Kopf. Der Anbau lohnt nicht mehr. Bis zu drei Viertel der Artischocken werden von noch rund 300 Höfen in der Bretagne produziert, der Rest im Roussillon um Perpignan im Süden. Von dort kommen die "Kleinen Violetten", die schmecken auch roh. Frankreich produziert etwa 20.000 Tonnen im Jahr. 2017 waren es statistisch noch mehr als doppelt so viel.
Eine einfach Vinaigrette ist ausreichend
Darauf erstmal eine Artischocke. Wie Hadrot sie am liebsten isst? "Einfach mit cremiger Vinaigrette aus Öl, Essig mit etwas Crème fraîche", sagt er. "Und bei uns in Saint-Pol gibt es sie gefüllt. Sie wird nicht gekocht, sondern über Wasserdampf gegart, geöffnet, das Artischockenherz herausgenommen und mit einer Farce aus Kalbs- oder Schweinefleisch gefüllt. Und ab in den Ofen."
"Deshabiller" - "Ausziehen" nennt er den Prozess, sich Schicht für Schicht zum Artischockeninneren vorzuarbeiten. Botschafter André Hadrot wünscht sich ein Gütesiegel für die "Artichaut de Bretagne". Und mehr Artischockenfans. Dafür hält er mit fast 80 Jahren sein Banner auf manchem Festumzug hoch. Er freut sich auch, wenn in der Pariser Metro für die Artischocke geworben wird - Hauptsache, sie verschwindet nicht von den Tellern.