Russlands Krieg in der Ukraine Offenbar keine Toten im Theater von Mariupol
Die ersten Überlebenden konnten das bombardierte Theater von Mariupol verlassen. Tote soll es nicht geben, doch die Lage in der Stadt verschlechtert sich zusehends. Im ganzen Land setzte Russland seine Angriffe fort.
Entgegen aller Befürchtungen sind bei dem Angriff auf ein Theater in der belagerten ukrainischen Stadt Mariupol offenbar keine Menschen gestorben. "Das Gebäude hat dem Einschlag einer Hochleistungsbombe standgehalten und das Leben der Menschen geschützt, die sich im Luftschutzkeller versteckt hielten", schrieb die ukrainischen Ombudsfrau Ludmyla Denisowa bei Telegram.
Ihren Angaben nach läuft die Rettung der Zivilisten aus den Trümmern. Der frühere Gouverneur der Region Donezk, zu der auch Mariupol gehört, Sergij Taruta, erklärte, erste Überlebende würden ans Tageslicht kommen. "Menschen kommen lebend raus", teilte er mit. Zahlen nannte er zwar nicht, aber der Parlamentsabgeordneten Olga Stefanyschyna zufolge wurden bereits etwa 130 Zivilisten gerettet. "Es ist ein Wunder", schrieb sie auf Facebook.
1000 Menschen hatten Schutz gesucht
Der Eingang zu dem Gebäude sei seit dem Angriff durch Trümmer versperrt, teilte der Chef der regionalen Militärverwaltung in Donezk, Pawlo Kyrylenko, bei Telegram mit. Ein von der Stadtverwaltung von Mariupol veröffentlichtes Foto zeigte, dass ein ganzer Teil des dreistöckigen Theaters nach dem Angriff am Mittwochabend einstürzte. Das Gebäude ist nach ukrainischen Angaben weitgehend zerstört worden.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Laut Behörden hatten zum Zeitpunkt des Angriffs mehr als 1000 Menschen im Theater Schutz gesucht. Vor dem Angriff hat es offenbar Warnungen gegeben, dass sich darin Kinder aufhalten sollen. Auf Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar ist zu sehen, dass auf dem Asphalt auf beiden Theater-Vorplätzen auf russisch das Wort "Kinder" in großen weißen Buchstaben steht. Das Bild war Maxar zufolge am 14. März aufgenommen worden. Auch Fotos, die laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom Tag vor dem Angriff stammen, zeigen die Aufschrift.
Luftangriff auch auf Schwimmbad
Russland dementierte die Beteiligung an der Bombardierung des Theaters. Wie bereits bei einem Angriff vergangene Woche auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol, der international für Entsetzen sorgte, machte Moskau die rechtsradikale ukrainische Asow-Brigade für den jüngsten Angriff auf das Theater verantwortlich. Die Angaben beider Seiten sind nicht unabhängig überprüfbar.
Russische Luftangriffe trafen nach Angaben des Verwaltungschefs auch das Gelände eines öffentlichen Schwimmbads in Mariupol. Auch dort hatten Zivilisten Schutz gesucht. "Jetzt liegen dort schwangere Frauen und Frauen mit Kindern unter den Trümmern. Das ist Terrorismus pur", sagte er. Die Zahl der Opfer war nicht bekannt.
Lage in Mariupol "katastrophal"
Die Lage in der Hafenstadt ist nach den Worten des stellvertretenden Bürgermeisters Serhij Orlow katastrophal. Besonders dramatisch sei die mangelnde Wasserversorgung. "Ein kleiner Teil der Menschen kann privat Wasser aus Brunnen entnehmen." Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, nutzten manche aber auch das Wasser aus Heizungsrohren, um es zu trinken. "Manche sagen auch, dass sie es aus Pfützen nehmen. Als es Schnee gab, haben sie den geschmolzen."
Orlow warf Russland vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um eine Kapitulation der Stadt zu erzwingen. Russland beteuert stets, nur militärische Ziele anzugreifen. Die Oppositionsabgeordnete Wasylenko verwies auf Berichte der Behörden, wonach 80 bis 90 Prozent aller Gebäude in Mariupol durch den russischen Angriff beschädigt worden seien sollen.
Mehrere Evakuierungsversuche der belagerten Stadt waren zuletzt gescheitert. Nach ukrainischen Angaben hatten aber in den vergangenen zwei Tagen Tausende Menschen die Stadt in rund 6500 Privatautos verlassen können. Allerdings habe es keine Feuerpause gegeben, teilte Mariupols Bürgermeister Wadim Bojchenko über Telegram mit. Die Menschen seien daher unter Beschuss aus der Stadt gefahren. Vor Beginn des Krieges vor drei Wochen lebten rund 400.000 Menschen in Mariupol.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von der russischen Armee kontrollierten Gebiete in der Ukraine. Die Krim ist von Russland annektiert.
Verstärkte Artillerie- und Luftangriffe
Das Präsidialamt in Kiew meldete neben dem Beschuss von Mariupol Artillerie- und Luftangriffe im ganzen Land, unter anderem in Kalyniwka und Browary nahe der Hauptstadt Kiew. Die russischen Truppen hätten außerdem versucht, in die Stadt Mykolajiw im Süden einzudringen. Aus Awdijiwka im Osten sei in der Nacht Artilleriefeuer gemeldet worden.
Nach Angaben der Ukraine greifen die russischen Streitkräfte zunehmend auf Artillerie- und Luftangriffe zurück, seit ihr Vormarsch ins Stocken geraten ist. Der ukrainische Generalstab erklärte, der Feind habe mit seiner Bodenoperation keinen Erfolg und verübe daher weiterhin Raketen- und Bombenangriffe auf die Infrastruktur und dicht besiedelten Gebiete ukrainischer Städte.
Auch Großbritannien geht davon aus, dass die russische Invasion an allen Fronten weitgehend ins Stocken geraten ist. In den vergangenen Tagen habe es zu Land, Wasser und Luft nur ein minimales Fortkommen des russischen Militärs gegeben, heißt es in britischen Militärgeheimdienst-Berichten zur aktuellen Lage. Die russischen Streitkräfte erlitten schwere Verluste.
"Der ukrainische Widerstand bleibt standhaft und gut koordiniert", erklärt das Londoner Verteidigungsministerium. Der überwiegende Teil des Landes einschließlich aller großen Städte sei weiterhin in ukrainischer Hand.
Mehr als 50 Tote in Tschernihiw
Am Morgen meldete die ukrainische Armee etwa, im Gebiet Charkiw habe es die ganze Nacht Beschuss gegeben. In der Stadt Merefa seien eine Schule und ein Kulturhaus zerstört worden. Es gebe Verletzte. Genaue Zahlen wurden zunächst nicht genannt.
Mehr als 50 Tote habe es an nur einem Tag nach Behördenangaben in der nordukrainischen Stadt Tschernihiw gegeben. "Allein in den letzten 24 Stunden sind 53 Leichen unserer Bürger, die vom russischen Aggressor ermordet wurden, in den Leichenhallen der Stadt eingetroffen", teilte der Chef der Militärverwaltung des Gebiets, Wjatscheslaw Tschaus, bei Telegram mit. Er machte Russland für Angriffe auf die zivile Infrastruktur verantwortlich. Auch diese Angaben sind unabhängig nicht zu überprüfen.
Die nahe der Grenzen zu Russland und Belarus gelegene Stadt Tschernihiw ist seit Kriegsbeginn Ziel russischer Angriffe. Die humanitäre Lage gilt als katastrophal, viele Gebäude sind zerstört. Der Kreml lehnte es inzwischen ab, der Aufforderung des Internationalen Gerichtshof in Den Haag nachzukommen, die militärische Gewalt sofort einzustellen. Der Kreml könne diese Entscheidung des höchsten UN-Gerichts nicht beachten, sagte Sprecher Dmitri Peskow.
Russland lässt sich auf Gefangenenaustausch ein
Nachgiebiger zeigte sich Russland beim Thema Gefangenenaustausch. Nach Angaben der ukrainischen Regierung ist der zwischenzeitlich entführte Bürgermeister der Stadt Melitopol, Iwan Fedorow, freigekommen. "Dafür erhielt Russland neun seiner gefangenen Soldaten der Jahrgänge 2002-2003", sagte eine Sprecherin lokalen Medien zufolge.
Es habe sich dabei um Wehrdienstleistende gehandelt. Vergangenen Freitag war der 33-Jährige in der südukrainischen Großstadt von Unbekannten entführt worden. Die Stadt mit knapp 150.000 Einwohnern wurde bereits kurz nach dem russischen Einmarsch vor knapp drei Wochen von russischen Truppen besetzt.