Scheitern der EU-Flüchtlingsquote "Ein politisches Armutszeugnis"
Dass die EU sich nicht auf eine Quote zur Verteilung von 40.000 Flüchtlingen einigen konnte ist ein politisches Versagen, meint Migrationsexperte Schneider im tagesschau.de-Interview. Dabei wären die Verpflichtungen der einzelnen Staaten eher gering gewesen.
tagesschau.de: Woran ist die Flüchtlingsquote auf dem EU-Gipfel gescheitert?
Jan Schneider: Es gibt in der Frage eine offensichtliche Differenz zwischen den osteuropäischen und den westeuropäischen Staaten. In manchen Ländern herrscht offenbar ein mangelndes Verständnis von Solidarität, denn derzeit stark von Flüchtlingszuwanderung betroffene Länder wie Griechenland oder Italien werden so mit ihren Problemen allein gelassen. Auch scheint vielen nicht klar zu sein, dass gemeinsame europäische Politik eben auch eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zwangsläufig mit einschließt: Wir haben seit einigen Jahren ein "gemeinsames europäisches Asylsystem" - aber eben nur auf dem Papier.
Dabei ging es bei dem Quoten-Vorschlag der EU nur um etwa 40.000 Flüchtlinge, die innerhalb der nächsten zwei Jahre auf die 28 Staaten verteilt werden sollten. Für jedes einzelne Land hätte sich die Belastung also stark in Grenzen gehalten. Dass die EU sich nicht einmal auf so einen Minimal-Kompromiss einigen kann, sehe ich als politisches Armutszeugnis.
tagesschau.de: Warum sperren sich vor allem die osteuropäischen Länder gegen die Quote?
Schneider: Die individuellen Gründe sind von Land zu Land verschieden, sie sind aber vor allem innenpolitischer Natur. Viele Staaten führen ins Felde, dass aufgrund der sozialistischen Vergangenheit ihre Volkswirtschaften noch nicht stark genug seien, um viele Flüchtlinge aufzunehmen. Problematisch ist aber eher das Gefälle beim sozialstaatlichen Leistungsniveau einzelner Länder. Wenn sie die europäisch vereinbarten Mindeststandards zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen anwenden, würden diese teilweise besser gestellt als arbeitslose Bürger des eigenen Staates, die auf eine Grundversorgung angewiesen sind. Sie fürchten schlichtweg um die Gunst der Wähler und versuchen daher, die Zahl der Flüchtlinge in ihrem Land so niedrig wie möglich zu halten.
Ein anderer Grund ist, dass in zahlreichen osteuropäischen Staaten fremdenfeindliche Einstellungen keine Seltenheit sind. Das hat sicher auch damit zu tun, dass es dort zu Zeiten des Eisernen Vorhangs - anders als in Westeuropa - wenig Berührungspunkte mit außereuropäischen Migranten gab. Bislang haben es diese Regierungen nicht geschafft, ihre Bevölkerungen ausreichend auf Vielfalt durch Zuwanderung vorzubereiten.
"Eine lächerlich geringe Zahl"
tagesschau.de: Aber die Länder nehmen bislang nur extrem wenige Flüchtlinge auf: Slowenien etwa hat 2013 laut Eurostat gerade einmal 35 Flüchtlinge registriert, bei einer Einwohnerzahl von zwei Millionen Menschen. Würde man diese Zahl auf Schweden umrechnen, entspräche das 160 Registrierungen. In Wahrheit waren es gut 24.000.
Schneider: Das stimmt. Dazu kommt, dass die Zahl an Flüchtlingen, die diese Staaten laut EU-Quote hätten aufnehmen müssen, ebenfalls sehr gering ist: Die baltischen Staaten etwa hätten demnach je 500 Menschen über die zwei nächsten Jahre aufnehmen müssen - eine lächerlich geringe Zahl angesichts des gesamten Flüchtlingsaufkommens in der EU. Hier herrscht also ganz offensichtlich eine grundlegende Skepsis, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Es gibt aber auch hier Ausnahmen: Ungarn und Rumänien. Dort kommen zurzeit über die sogenannte Balkanroute sehr viele Flüchtlinge an. Ungarn beispielsweise hat im vergangenen Jahr rund 40.000 Flüchtlinge registriert, bei etwa zehn Millionen Einwohnern - das sind deutlich mehr als beispielsweise Großbritannien, das mehr als sechsmal so viele Einwohner zählt, aber viel weniger Asylanträge entgegengenommen hat.
tagesschau.de: Dennoch: Hat die EU keine Mittel, die skeptischen Staaten zum Einlenken zu bewegen, etwa durch finanzielle Anreize?
Schneider: Die gibt es ja bereits: Jedes Land hätte pro Flüchtling, der durch die Quote in das Land kommt, rund 6000 Euro pauschal von der EU bekommen. Das ist natürlich nicht viel, aber es deckt zumindest einen Teil der Kosten. Und es wäre letztlich auch ein Argument, um für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung zu werben. Auch die geringere Wirtschaftskraft der neuen EU-Mitglieder wurde bei dem Verteilungsschlüssel ja schon mäßigend einbezogen: Es wird nicht nur prozentual nach Einwohnerzahl verteilt, sondern auch nach dem jeweiligen Bruttoinlandsprodukt.
Europäische Politik bedeutet dicke Bretter zu bohren, von daher wird es die Aufgabe der nächsten Jahre sein, mit einer Mischung aus leichtem Druck und finanziellen Anreizen, auf die Staaten einzuwirken.
Freiwillige Übereinkunft?
tagesschau.de: Wie realistisch ist eine freiwillige Übereinkunft, wie sie der EU-Rat nun anstrebt?
Schneider: Es hat in den vergangenen Jahren durchaus schon Beispiele gegeben, wo sich die beteiligten Staaten gütlich geeinigt haben, Flüchtlinge auf freiwilliger Basis von einem Land auf andere zu verteilen. Etwa aus Malta, das vor wenigen Jahren verhältnismäßig viele Flüchtlinge aufnehmen musste, vom denen dann einige Hundert von anderen EU-Staaten aufgenommen wurden. Außerdem darf man nicht vergessen, dass EU-Politik sehr häufig Freiwilligkeit und politischen Willen erfordert - das war schon immer so. Von daher geht es jetzt darum, eine "Koalition der Willigen" zu schmieden und mit gutem Beispiel vorangehen.
tagesschau.de: Bei den Verhandlungen auf dem Gipfel soll es hinter verschlossenen Türen heftige Vorwürfe gegeben haben. Italiens Premierminister warf den Verweigerern vor, sich unsolidarisch zu verhalten. Wie sehr belastet das Scheitern der Quote die europäische Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik generell?
Schneider: Man muss da zum einen unterscheiden zwischen Gipfelrhetorik und Alltagspolitik. Zum anderen ist die Quote ja nur ein recht kleines Problem innerhalb der gesamten EU-Flüchtlingspolitik. Man darf nicht vergessen, dass jedes Jahr weit mehr als 500.000 Flüchtlinge kommen, dieses Jahr vielleicht eine Million. Das Scheitern der Quote wird daher auf die Politik gegenüber Flüchtlingen - etwa mit Blick auf die Verhältnisse im Mittelmeer oder die Gewährleistung von Mindeststandards für Asylsuchende - keinen großen Einfluss haben. Das größere Versäumnis der europäischen Politik liegt darin, keine legalen Zugangswege für Schutzsuchende aus Bürgerkriegsländern zu eröffnen. Das von der EU-Kommission vorgeschlagene Kontingent zur Aufnahme von anerkannten Flüchtlingen direkt aus Krisenregionen - das sogenannte Resettlement von weiteren 20.000 Personen über zwei Jahre - ist dabei kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch hier sollen die EU-Staaten die Menschen übrigens freiwillig aufnehmen.
Fatales Signal an Griechenland und Italien
tagesschau.de: Wie sehr verschärft das Scheitern der Quote die Probleme in Italien oder Griechenland? Und wie sind die Flüchtlinge davon betroffen?
Schneider: Die Umsiedlung ist in erster Linie nötig, um Italien und Griechenland zu entlasten, denn diese Länder können die vielen Flüchtlinge nicht ausreichend versorgen. Das könnte dazu führen, dass diese Länder sich auch weiterhin nicht an europäische Vorgaben halten und jeden Flüchtling auch wirklich registrieren und angemessen unterbringen. Deswegen ist die Entscheidung des EU-Gipfels auch ein fatales Signal an diese Länder, denn sie werden im Stich gelassen.
Es wird aber auch zur Folge haben, dass Flüchtlinge zunehmend in die Illegalität abtauchen und versuchen, unerkannt weiter zu reisen, weil sie in den Mittelmeerländern teilweise menschenrechtswidrigen Bedingungen ausgesetzt sind.
Muss Dublin-Verfahren geändert werden?
tagesschau.de: Ein Teil des Problems ist auf die starren Regeln des Dublin-Verfahrens zurückzuführen. Die besagen, dass ein Flüchtling nur in dem Land Asyl beantragen kann, dass er innerhalb der EU als erstes betritt - in der Regel sind das die südlichen Mittelmeerländer. Ist dieses Abkommen noch zeitgemäß?
Schneider: Abschaffen sollten wir die Dublin-Verordnung nicht, zumindest nicht ersatzlos, denn sie regelt auch viele sinnvolle Dinge, wie den Umgang mit Minderjährigen, Familienzusammenführungen oder dass bestimmte (rechtliche) Standards eingehalten werden. Nichtsdestotrotz ist das Kernproblem der Regelung eminent - deswegen sind dringend Änderungen notwendig.
tagesschau.de: Wieso haben die EU-Außenstaaten das Abkommen damals überhaupt akzeptiert? War nicht absehbar, dass sie den Binnenstaaten gegenüber viel schlechter gestellt sein würden?
Schneider: Als das Abkommen in den 1990er-Jahren auf den Weg gebracht wurde, waren die Rahmenbedingungen ganz andere. Es gab kaum Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten, sondern vor allem aus Osteruropa und dem Balkan. Zudem war die EU damals noch wesentlich kleiner. Heutige Binnenländer wie Deutschland hatten damals noch EU-Außengrenzen, waren also direkt davon betroffen. Das hat sich heute, wie wir wissen, radikal geändert.
Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de