Referendum in Großbritannien Brexit - wie geht das eigentlich?
Sollten die Briten am 23. Juni für einen Brexit stimmen, kommen auf die EU knifflige Verhandlungen zu. Denn allein durch das Votum würde Großbritannien nicht sofort die EU verlassen. Wie also würde der Brexit ablaufen und welche rechtlichen Folgen hätte er?
Von Tobias Sindram und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion
Warum ist der Brexit zulässig?
Das Recht zum Austritt aus der EU steht jedem Mitgliedstaat zu. Einen Grund für den Austritt braucht der austrittswillige Staat dabei nicht. Das ergibt sich aus Artikel 50 des EU-Vertrags. Dort heißt es in Absatz 1: "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten." Diese ausdrückliche Regelung gilt erst seit 2009. Allerdings gingen die meisten Juristen auch vorher davon aus, dass ein EU-Austritt möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon 1993 in seinem "Maastricht-Urteil" zur Gründung der EU angemerkt, dass die Mitgliedsstaaten als "Herren der (europäischen) Verträge" ihre Mitgliedschaft auch wieder beenden könnten. Das sei Teil ihrer Souveränität.
Worüber wird genau abgestimmt?
Die Briten stimmen am 23. Juni darüber ab, ob das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union verbleiben soll oder nicht. Die Originalfrage lautet: "Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“ Die beiden Antwortmöglichkeiten lauten: "Remain a member of the European Union" und "Leave the European Union".
Wer ist abstimmungsberechtigt?
Abstimmungsberechtigt sind alle Briten, sofern sie über 18 Jahre alt sind und in Großbritannien und Nordirland wohnen. Außerdem sind viele Briten abstimmungsberechtigt, die im Ausland leben. Wie bei Wahlen im Königreich dürfen neben britischen Staatsbürgern auch Iren und Angehörige aus Commonwealth-Staaten mit abstimmen, sofern sie ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich haben. EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben, sind dagegen nicht abstimmungsberechtigt - mit Ausnahme der Iren, Zyprer und Malteser, denn Malta und Zypern gehören zum Commonwealth.
Eine Einschränkung gilt für alle Abstimmungsberechtigten: Sie mussten rechtzeitig dafür sorgen, im aktuellen Wählerverzeichnis zu stehen. Nach einem Umzug oder als Erstwähler taucht man dort nicht automatisch auf. Die Registrierungsfrist lief in England, Schottland und Wales eigentlich am 7. Juni ab. Weil die Webseite für die Online-Registrierung Stunden vor Fristablauf zusammenbrach, wurde die Frist kurzerhand um zwei Tage verlängert. Brexit-Befürworter haben angekündigt, die Zulässigkeit dieser Wahlrechtsänderung überprüfen zu wollen.
Wären die Briten durch ein "Ja" zum Brexit sofort raus aus der EU?
Nein. Das "Ja" wäre nur der erste Schritt für den Austritt. Der EU-Vertrag schreibt in Artikel 50 ein bestimmtes Verfahren für den EU-Austritt vor. Nach einem Sieg der Brexit-Befürworter müsste das Vereinigte Königreich die EU zunächst über seinen Austrittswunsch offiziell informieren. Anschließend sind die EU und die Briten nach dem EU-Vertrag verpflichtet, über die Einzelheiten des Austritts und das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich Verhandlungen aufzunehmen. Das Ziel dieser Verhandlungen: ein "Austrittsabkommen", dem am Ende sowohl das Vereinigte Königreich als auch die EU zustimmen können. Auf Seiten der EU müssten das Europäische Parlament zustimmen und mindestens 20 der 27 übrigen europäischen Regierungen im Rat der Europäischen Union (27 Mitgliedstaaten gehören derzeit neben dem Vereinigten Königreich der EU an). Die zustimmenden 20 Regierungen müssen außerdem mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren - nach dem "Prinzip der doppelten Mehrheit".
Was passiert, wenn man sich nicht auf ein Austrittsabkommen einigt?
Einigen sich EU und Briten nicht auf ein Austrittsabkommen und auch nicht auf eine längere Verhandlungsfrist, kommt es nach zwei Jahren zum automatischen Brexit. Das ergibt sich aus Artikel 50 Absatz 2 EU-Vertrag. Auf diese Weise wird verhindert, dass die EU den Austritt eines zum Austritt entschlossenen Staates einseitig verschleppen kann und der Austritt letztlich doch von der Zustimmung der anderen EU-Staaten abhängt. Stichtag für den automatischen Brexit nach zwei Jahren wäre nicht das Referendum vom 23. Juni 2016, sondern die Anzeige des Austrittswunsches gegenüber der EU, die vermutlich ein paar Tage später erfolgen würde. Ohne Einigung auf ein Austrittsabkommen - oder zumindest auf eine Fristverlängerung - käme es also vermutlich Ende Juni 2018 zum Brexit. Aber auch im Falle eines Austrittsabkommens dürfte der Sommer 2018 als Richtschnur dienen. Denn andernfalls sähe sich die britische Regierung zu Hause vermutlich dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie sich dem Wunsch der Brexit-Mehrheit widersetzt, indem sie den automatischen Brexit nach zwei Jahren verzögert.
Welche rechtlichen Folgen hätte ein Brexit für Deutsche und andere EU-Bürger?
Das ist schwer abzusehen und hängt davon ab, was in einem möglichen Austrittsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich und in weiteren Abkommen geregelt werden würde. Ohne neue Vereinbarungen gilt: Das aus den "Europäischen Grundfreiheiten" folgende Recht aller EU-Bürger, ins Vereinigte Königreich zu reisen, dort zu wohnen und zu arbeiten, würde nach Wirksamwerden des Brexits nicht mehr gelten. Allerdings dürfte der Druck britischer Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter aus dem EU-Ausland auch ohne aufwendige Arbeitsgenehmigungen behalten zu dürfen, groß sein. Laut britischem Statistikamt ONS waren zwischen Januar und März 2016 rund 2,1 Millionen EU-Ausländer im Vereinigten Königreich tätig. Sie lassen sich wohl kaum innerhalb der zweijährigen Austrittsphase nach dem Referendum ersetzen. Auch ohne Einigung mit der EU kann das Vereinigte Königreich natürlich für die Zeit nach dem Brexit einseitig Regelungen für EU-Ausländer auf seinem Gebiet erlassen. Dabei stünde es dem Vereinigten Königreich anders als jetzt auch frei, Ausländer aus den verschiedenen EU-Ländern unterschiedlich zu behandeln und allein nach dem Bedarf und besonderen Qualifikationen zu entscheiden.
Für europäische Touristen würde sich vermutlich ohnehin nichts ändern. Es ist kaum vorstellbar, dass das Vereinigte Königreich eine allgemeine Visumspflicht für EU-Ausländer einführt. Die Auswirkungen auf den Tourismus dürften zu negativ sein. Und Grenzkontrollen gibt es bei der Einreise auf die Insel ohnehin, denn die Briten gehören nicht zum Schengen-Raum.
Welche Folgen hätte der Brexit für Briten in anderen EU-Staaten?
Auch das ist schwer vorherzusagen und hängt davon ab, was gegebenenfalls in einem Austrittsabkommen und in weiteren Abkommen vereinbart wird. Ohne neue Regeln würde auch für die Briten keine allgemeine Freizügigkeit innerhalb der EU mehr gelten. Sie würden zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt wie andere Nicht-EU-Ausländer behandelt werden, bräuchten also eine Arbeitsgenehmigung und einen dauerhaften Aufenthaltstitel. Der Druck auf die EU beziehungsweise die einzelnen EU-Mitglieder, eine Lösung für die schon hier lebenden Briten zu finden, wäre dabei sicherlich nicht ganz so groß wie im umgekehrten Fall für Großbritannien. Denn die einzelnen EU-Staaten sind nicht so abhängig von den britischen Arbeitnehmern wie das Vereinigte Königreich von den derzeit 2,1 Millionen EU-Ausländern, die auf der Insel arbeiten.
Was könnte in einem Austrittsabkommen geregelt werden?
Das Austrittsabkommen soll laut EU-Vertrag "die Einzelheiten des Austritts" regeln. Neben dem Zeitpunkt, wann der Austritt wirksam werden soll, könnte es zum Beispiel um Übergangsregelungen gehen, die die Folgen der Trennung für beide Seiten abmildern. So könnte man vereinbaren, dass bestimmte Freizügigkeitsrechte für EU-Bürger und Briten trotz des Brexits - zumindest erst einmal - weiter gelten. Naheliegend wäre es zum Beispiel, Regelungen für schon im Vereinigten Königreich lebende EU-Ausländer und für in Europa lebende Briten zu vereinbaren.
Außerdem könnten Übergangsregelungen für den freien Warenverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr getroffen werden, denn auch diese wirtschaftlich wichtigen europäischen Freiheiten gingen mit dem britischen EU-Austritt für beide Seiten verloren. Auch viele Brexit-Anhänger wünschen sich auf wirtschaftlicher Ebene weiterhin eine enge Zusammenarbeit und sind Befürworter des "Gemeinsamen - europäischen - Binnenmarkts". Einigt man sich nicht, würden zumindest noch die Handelsregeln der Welthandelsorganisation WTO gelten.
Inwieweit in dem Austrittsabkommen - dem neben dem Europäischen Parlament im Ministerrat ja nur 20 der 27 restlichen europäischen Regierungen zustimmen müssen, damit es wirksam wird - auch dauerhafte Regelungen getroffen werden könnten, ist nicht ganz klar. Sollte das Vereinigte Königreich zum Beispiel wie Norwegen, Island und Liechtenstein Teil des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden wollen und auf diese Weise am Europäischen Binnenmarkt teilnehmen, müssten alle EU-Staaten, die EU selbst sowie Norwegen, Island und Liechtenstein zustimmen.
Welchen Einfluss hätten die Briten in der Zwischenzeit in Brüssel?
Da nirgendwo in den europäischen Verträgen etwas anderes geregelt ist, dürfte der britische Premierminister bis zum endgültigen EU-Austritt weiterhin an den Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im "Europäischen Rat" teilnehmen - der vielleicht wichtigsten Institution auf europäischer Ebene. Gleiches gilt für die britischen Minister im "Rat der Europäischen Union", dem sogenannten Ministerrat. Problematisch ist das vor allem, soweit für Entscheidungen ausnahmsweise Einstimmigkeit erforderlich ist. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn es um den finanziellen Rahmen der EU geht und um steuerliche Fragen. Denn auch wenn die Konsequenzen vieler EU-Entscheidungen die ausscheidenden Briten nicht mehr unmittelbar betreffen würden, könnten sie das Einstimmigkeitserfordernis als Verhandlungsmasse nutzen - für andere Fragen wie zum Beispiel ihr zukünftiges Verhältnis zur EU.
Kaum vorstellbar ist, dass die britische Regierung bei einem "Ja" zum Brexit im Juli 2017 planmäßig für sechs Monate die Ratspräsidentschaft und damit die Führungsrolle im Rat der Europäischen Union übernimmt.
Was würde aus den britischen EU-Abgeordneten werden?
Bis zum Wirksamwerden eines Austrittsabkommens oder bis zum automatischen EU-Austritt gut zwei Jahre nach dem Referendum ist das Vereinigte Königreich weiterhin EU-Mitglied. Deshalb wären die 73 britischen EU-Parlamentarier weiterhin ganz normale Abgeordnete. Sie hätten also nach wie vor ihr Stimm- und Rederecht. Was dann beim endgültigen Brexit passiert, ist nicht eindeutig geregelt. Mit dem Wirksamwerden des EU-Austritts dürften die britischen Abgeordneten aber zumindest alle ihre parlamentarischen Rechte verlieren. Denn die Abgeordneten sind zwar eigentlich für die gesamte Wahlperiode gewählt - und die endet erst mit der nächsten EU-Parlamentswahl im Frühjahr 2019 und nicht mit einem möglichen EU-Austritt Großbritanniens. Allerdings beruhen die Mandate allein auf der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs. Dürften die britischen Abgeordneten auch nach dem Brexit weiter an Sitzungen und Abstimmungen teilnehmen, würden sie keine EU-Bürger mehr repräsentieren und die Abstimmungsergebnisse der europäischen Volksvertretung verfälschen.
Was bedeutet der Brexit für EU-Mitarbeiter mit britischem Pass?
Bei der EU-Kommission, dem größten EU-Arbeitgeber, arbeiten beispielsweise 1164 Briten (Stand Januar 2016). Auch in Deutschland gibt es britische EU-Bedienstete, zum Beispiel bei der EZB in Frankfurt, wo rund 160 Briten tätig sind. Grundsätzlich gilt: Wer für die EU arbeiten will, muss die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Dementsprechend groß soll die Verunsicherung bei britischen EU-Beamten und den sogenannten "Vertragsangestellten" mit befristeten Verträgen sein. Ihr berufliches Schicksal ist sicherlich einer der Punkte, die man versuchen würde, in einem Austrittsabkommen zu regeln. Ob mit oder ohne Abkommen: Eine Lösung könnte sein, dass alle, die unbefristet bei der EU arbeiten, auch im Falle eines Brexits bleiben dürften. Denn auch im europäischen Recht gibt es den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Deutlich problematischer dürfte die Situation der befristen Angestellten sein, sobald ihr Vertrag ausläuft.
Wären die Briten mit dem Brexit alle EU-Regeln auf einen Schlag los?
Mit dem Brexit würden die EU-Verträge, die zum Beispiel den freien Warenverkehr und die Freizügigkeit für EU-Bürger garantieren, keine Anwendung mehr auf das Vereinigte Königreich finden. Gleiches gilt für EU-Verordnungen. Das sind EU-Regeln, die wie nationale Gesetze unmittelbar in den EU-Staaten gelten. Ein Beispiel ist die europäische Fluggastrechte-Verordnung, die Fluggästen ab bestimmten Verspätungen Entschädigungszahlungen garantiert. Sehr viel EU-Recht steht aber nicht in EU-Verordnungen, sondern in EU-Richtlinien. Die müssen die Mitgliedstaaten noch in eigene, nationale Gesetze umsetzen. Ein Beispiel sind die Verbraucherrechte beim Kauf von beweglichen Sachen, also beispielsweise Kleidung und Smartphones. Die Verbraucherrechte aus der europäischen Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie wie zum Beispiel die Ansprüche auf Reparatur oder eine neue Sache bei einem Mangel finden Käufer im Vereinigten Königreich im "Consumer Rights Act". Der ist ein nationales Gesetz und bleibt daher auch beim Brexit bestehen. Aber: Die Briten könnten nach dem Brexit die Verbraucherrechte im "Consumer Rights Act" verändern oder gleich das ganze Gesetz abschaffen. Außerdem wären britische Richter bei ihren Entscheidungen auch nicht mehr daran gebunden, wie der EuGH die Verbraucherrechte in der Richtlinie versteht.
Was, wenn die Briten irgendwann wieder in die EU zurückwollen?
Eine Rückkehr in die EU nach einem Austritt ist möglich. Allerdings stellt der EU-Vertrag klar, dass dafür das sehr aufwendige Beitrittsverfahren erneut komplett durchlaufen werden muss (Artikel 50 Absatz 5). Dabei müssten alle EU-Staaten für den erneuten EU-Betritt stimmen.
Fliegt Großbritannien beim Brexit eigentlich aus dem Eurovision Song Contest?
Die sicherlich wichtigste Frage zum möglichen Brexit lässt sich zum Glück ganz eindeutig beantworten: Die Briten fliegen durch den Brexit nicht aus dem Eurovision Song Contest (ESC). Der ESC hat nichts mit der EU-Mitgliedschaft zu tun. Der Wettbewerb wird von der "Europäischen Rundfunkunion" veranstaltet, einem Zusammenschluss von 73 Rundfunkanstalten aus 56 Ländern in und um Europa. Auch Nicht-EU-Staaten wie Norwegen und Russland nehmen regelmäßig am ESC teil. Dem sechsten ESC-Titelgewinn der Briten steht also auch im Falle eines Brexits nichts entgegen. Wahrscheinlicher als der erste britische - also englische, schottische, walisische oder nordirische - Gewinn der Fußballeuropameisterschaft ist der nächste ESC-Sieg der Briten allemal.