Neue Abstimmungen im Unterhaus London sucht das kleinste Übel
Nach den Testabstimmungen im britischen Parlament läuft die Auszählung der Stimmen. Zur Wahl standen erneut mögliche Alternativen zu Mays Brexit-Deal. Parlamentspräsident Bercow hatte vier Vorschläge zugelassen.
Das Unterhaus unternimmt einen neuen Anlauf, um einen Ausweg aus der verfahrenen Brexit-Situation zu finden. Parlamentspräsident John Bercow hatte am frühen Abend vier Optionen für die Abstimmung ausgewählt, über die die Abgeordneten abstimmen sollten. Derzeit läuft die Auszählung, das Ergebnis könnte kurz nach 23 Uhr feststehen. Die Probeabstimmungen sind rechtlich nicht bindend, haben aber politisches Gewicht.
Folgende Vorschläge standen zur Abstimmung:
Zollunion: Einflussreiche Konservative und Labour-Politiker fordern, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt. Dieses Ziel soll gesetzlich verordnet werden. Diesem Vorschlag werden die besten Chancen auf eine Mehrheit ausgerechnet.
Gemeinsamer Markt: Ein Abkommen mit der EU nach dem Vorbild von Norwegen. Man bliebe in einem gemeinsamen Markt einschließlich gesonderter Zoll-Regelungen. Der Antrag fand bei der letzten Abstimmung keine Mehrheit.
Referendum: Dutzende Abgeordnete aus verschiedenen Parteien verlangen, dass das Brexit-Abkommen vor dem Austritt der Bevölkerung in einer zweiten Volksabstimmung vorgelegt wird. Der Vorstoß scheiterte beim ersten Mal recht knapp.
Brexit-Widerruf und zweites Referendum: Sollte es zwei Tage vor dem EU-Austritt keine Mehrheit für einen Deal geben, muss London diesem Vorschlag zufolge die EU um eine weitere Verlängerung bitten. Wird das nicht bewilligt, soll das Parlament erneut über einen No-Deal abstimmen. Wird der Austritt ohne Abkommen abgelehnt, soll die Austrittserklärung zurückgezogen werden. Ob Großbritannien dann doch aus der EU austritt, könnte in einer weiteren Volksabstimmung geklärt werden.
Vierte Abstimmung über Brexit-Deal?
Die britische Premierministerin Theresa May hat sich seit Langem darauf festgelegt, sowohl Zollunion als auch Binnenmarkt zu verlassen. Auch die Brexit-Hardliner in ihrem Kabinett sitzen ihr im Nacken. Falls das Parlament sich heute tatsächlich auf einen weicheren Brexit einige, könne May das kaum umsetzen, sagt ARD-Korrespondentin Annette Dittert - "denn dann dürfte ihr halbes Kabinett zurücktreten".
May könnte ihrerseits versuchen, ihren bereits dreimal abgelehnten Brexit-Deal erneut zur Abstimmung vorzulegen. Es könnte auch zu einer Stichwahl zwischen ihrem Vorschlag und dem Alternativplan mit den meisten Stimmen kommen.
Der Zeitdruck ist enorm: Kommt das völlig zerstrittene Parlament nicht bald zu einer Einigung, drohen ein Austritt ohne Abkommen am 12. April oder eine erneute Verschiebung des EU-Austritts - mit einer Teilnahme der Briten an der Europawahl Ende Mai als Folge.
Theresa May könnte ihren Deal erneut zur Abstimmung bringen - es wäre bereits der vierte Anlauf.
"Niemand weiß, wo es langgeht"
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte vom Unterhaus heute rasche Klarheit über die Pläne des Landes. "Eine Sphinx ist ein offenes Buch im Vergleich zum britischen Parlament", sagte er in Saarbrücken. "Und wir müssen diese Sphinx jetzt zum Reden bringen. Es reicht jetzt mit dem langen Schweigen." Juncker beklagte, dass in Sachen Brexit "niemand weiß, wo es langgeht". Die EU wisse, was das britische Parlament nicht wolle: "Was es aber will, haben wir bislang noch nicht in Erfahrung gebracht."
Bliebe Großbritannien über Mitte April hinaus Mitglied der Europäischen Union, so muss das Land nach Junckers Ansicht an den Europawahlen teilnehmen. Wenn es einen weiteren Aufschub des geplanten Brexits gebe, müsse das Vereinigte Königreich seine Bürger gemäß der bestehenden Verträge Ende Mai abstimmen lassen, sagte er. Ob er das persönlich wolle, sei eine andere Frage.
Bereits gestern hatte Juncker im italienischen Sender Rai 1 gesagt, man habe "viel Geduld mit unseren britischen Freunden" gehabt. Die Geduld sei aber bald "aufgebraucht". Großbritannien solle sich daher bald darauf einigen, welchen Weg es einschlagen wolle.
Zwischenfall mit Klima-Demonstranten
Während der Debatte kam es im britischen Parlament zu einem Zwischenfall: Mehrere Klima-Demonstranten zogen sich bis auf die Unterhosen aus und drückten ihre Rückseiten gegen eine Fensterscheibe oberhalb des Plenums. Auf ihren Rücken waren Slogans wie "Klima-Gerechtigkeit sofort" zu lesen. Einige schienen sich mit Klebstoff an die Scheibe befestigt zu haben. Mindestens einer der Demonstranten wurde später von der Polizei abgeführt.
Halbnackte Demonstranten hatten ihre Rückseiten mit Klima-Slogans beschriftet - und zeigten diese dem Plenum auch.
Auch über Petition wird beraten
Neben den Alternativvorschlägen zum Brexit soll das Unterhaus auch über eine Petition für einen Widerruf der EU-Austrittserklärung Großbritanniens beraten. Sechs Millionen Briten haben die Online-Petition schon unterzeichnet - ein Rekord. Das Parlament muss zu Petitionen mit mehr als 100.000 Unterzeichnern eine Debatte zulassen.
Die Regierung teilte aber bereits mit, dass sie eine Rücknahme der Austrittserklärung ablehnt und sich an das Referendum von 2016 gebunden fühlt. Damals hatte eine knappe Mehrheit (17,4 Millionen Menschen) für den EU-Austritt gestimmt.