Brexit aus EU-Sicht Der schwierigste Teil kommt noch
Das britische Parlament wird heute wohl erstmals einem Austritts-Deal zustimmen - aber vorbei ist die Brexit-Saga damit noch lange nicht. Aus Sicht vieler EU-Experten kommt das Schwierigste noch.
Die Briten haben gewählt, und für Premierminister Boris Johnson und seine Konservativen wurde es ein Erdrutschsieg. Mit einer satten 80-Stimmen-Mehrheit im Rücken kann der Tory-Chef den Brexit nun endlich "durchziehen", ohne mit nennenswertem Widerstand rechnen zu müssen.
Heute wird das britische Parlament in Westminster den modifizierten Austrittsvertrag mit der EU höchstwahrscheinlich durchwinken, nachdem Johnsons Vorgängerin Theresa May dreimal gescheitert ist. Doch damit ist die nervenzehrende Brexit-Saga noch keinesfalls vorbei.
Wie die EU die Dinge sieht:
Der Brexit kommt. Das ist auch den Verantwortlichen in Brüssel mittlerweile klar. Jede Diskussion über noch eine Verschiebung des Austrittstermins oder ein zweites Referendum hat sich nach dieser Parlamentswahl erübrigt. Die Champagnerkorken werden zwar nicht knallen, weil die meisten die Trennung bedauern. Doch dass die monatelange Hängepartie ein Ende hat und das chaotische "No-Deal-Szenario" abgewendet wurde, sorgt trotz allem für Erleichterung. "Endlich Klarheit" - so der Tenor der meisten Kommentare.
Und noch etwas freut die EU-27 und ihren Brexit-Unterhändler Michel Barnier: Dank des überraschend starken Mandats von Johnson landet das mühsam ausgehandelte, knapp 600 Seiten lange Austrittsabkommen nun doch nicht im Papierkorb. Das bedeutet: Die finanziellen Ansprüche der EU gegenüber London, die Rechte der EU-Bürger jenseits des Kanals und nicht zuletzt eine offene Grenze auf der irischen Insel sind juristisch abgesichert - unabhängig davon, was die Zukunft bringt.
Was als nächstes passiert:
Richtig schwierig wird es allerdings erst jetzt, warnen die EU-Experten. Denn im Austrittsvertrag mit den Briten, an dem beide Seiten anderthalb Jahre lang gefeilt haben, sind lediglich die Bedingungen der Scheidung geregelt und nicht die Grundlagen der künftigen Beziehungen. Um die soll es in Phase zwei der Verhandlungen gehen, die nach dem Wunsch der EU nun so schnell wie möglich beginnen sollen. Zuvor allerdings muss nach dem Unterhaus auch noch das Europaparlament dem Brexit-Deal seinen Segen geben, was voraussichtlich Mitte Januar geschieht. Manfred Weber, Chef der mitgliederstarken EVP-Fraktion, rechnet jedenfalls nicht mit Widerstand.
Mit einem Ja aus Straßburg wäre der Weg wirklich frei für einen geordneten Austritt der Briten. Am 31. Januar, um Mitternacht, nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft, wird das Vereinigte Königreich die Union voraussichtlich verlassen und damit zum Drittstaat. Vollständig gekappt werden die Bande dann freilich nicht, denn mit dem 1. Februar beginnt die im Brexit-Abkommen festgelegte Übergangsperiode. Heißt: Bis Ende 2020 bleibt Großbritannien noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Für Bürger und Unternehmen ändert sich also erst einmal nichts.
"Get Brexit Done" - mit diesem Slogan gewannen Boris Johnson und die Tories die Wahl.
Was in Phase zwei auf dem Spiel steht:
Ist der Brexit mit fast einem Jahr Verspätung formell vollzogen, will die EU zügig Gespräche über ein umfassendes Freihandels- und Partnerschaftsabkommen starten. Das haben die Staats- und Regierungschefs auf ihrem letzten Gipfel im alten Jahr noch einmal einstimmig betont. Im Schlussdokument wird die EU-Kommission beauftragt, "sofort" nach dem Austritt der Briten ein entsprechendes Mandat für Chefverhandler Barnier vorzulegen. Die Zeit drängt, mahnt der Franzose. Alle Fragen seien bis Ende nächsten Jahres sicher nicht zu klären, aber er und sein Team gäben ihr Bestes.
Mit nur elf Monaten ist das Zeitfenster für einen erfolgreichen Abschluss tatsächlich denkbar eng. Zu eng, sagen Diplomaten hinter vorgehaltener Hand. In so kurzer Zeit habe die EU noch nie ein Freihandelsabkommen mit einem Drittstaat ausgehandelt.
Im Falle Großbritanniens geht es noch dazu um besonders komplizierte Themen wie Dienstleistungen, Finanzgeschäfte, Agrarprodukte oder die künftige Zusammenarbeit bei Terrorabwehr und Verteidigung. Obendrein müsste schon im Oktober 2020 ein fertiger Text vorliegen, damit der Vertrag bis Jahresende ratifiziert werden und rechtzeitig in Kraft treten kann.
Wie die Erfolgsaussichten sind:
Ob Staffel zwei der Brexit-Saga glücklich endet, hängt - abgesehen vom Faktor Zeit - entscheidend vom guten Willen und den Zielen der handelnden Akteure ab. Ein simpler Deal nach Schema F, etwa nach Vorbild des Abkommens mit Kanad, ließe sich womöglich in elf Monaten hinbekommen. Komplexere Probleme, wie Fischereirechte oder Datenschutz, könnte man später in Angriff nehmen.
Zeigt sich die Regierung Johnson außerdem bereit, sich in Steuerfragen, im Arbeitsrecht sowie im Sozial- und Umweltbereich auch künftig eng an EU-Standards zu orientieren, könnten der Parforce-Ritt gelingen.
Im Moment allerdings deutet vieles darauf hin, dass man in der Downing Street an einem solchen "Level Playing Field", einem fairen Gleichgewicht aus Rechten und Pflichten, wie es die EU anstrebt, wenig Interesse hat. Mehr Sonderwünsche, mehr Abweichungen von einem Abkommen "von der Stange" bedeuten aber automatisch schwierigere Verhandlungen und einen längeren Ratifizierungsprozess.
Warum ein harter Brexit immer noch möglich ist:
Der Brexit bleibt auch in Phase zwei ein Rennen gegen die Uhr, das verloren gehen kann. Wird man sich in der jetzt noch verbleibenden Zeit nicht handelseinig, stünde das Vereinigte Königreich am 31. Dezember 2020 wieder am Abgrund. Über Nacht müsste die EU Zölle auf britische Waren erheben und Grenzkontrollen einführen.
Einen Ausweg böte die Verlängerung der Übergangsfrist um bis zu zwei Jahre, wie sie der Brexit-Vertrag ausdrücklich vorsieht. Allerdings müsste sich die britische Regierung bis spätestens Ende Juni für diese Option entscheiden. Das Problem: Premier Johnson hat das schon im Wahlkampf kategorisch ausgeschlossen und will per Gesetz verhindern, dass die Klausel gezogen wird - ein Zugeständnis an die Hardliner in den eigenen Reihen, die notfalls ein Ende mit Schrecken bevorzugen würden. Großbritannien bis Ende 2022 in der Schwebe zu halten zwischen Mitgliedschaft und Austritt, scheint derzeit politisch schwer vermittelbar.
Manch ein Beobachter in Brüssel hält den hohen Zeitdruck aber sogar für positiv: Weil er beide Seiten zwingt, sich zu konzentrieren - und die Gefahr verringert, dass die Front der EU-27 bröckelt, wenn es ans Eingemachte geht.