Wahlkampfrhetorik in der Türkei Stimmenfang mit Hetze gegen Flüchtlinge
Vor der Stichwahl zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und seinem Herausforderer Kilicdaroglu werben beide im nationalistischen Milieu aggressiv um Stimmen - auf Kosten der syrischen Flüchtlinge.
Es ist einer von vielen Wahlkampfauftritten Kemal Kilicdaroglus in diesen Tagen. Er ist nach Antakya gereist, die Stadt, die vom Erdbeben am schwersten getroffen wurde. Unter großem Jubel betritt der 73-Jährige ein Veranstaltungszelt und hält zunächst eine Schweigeminute für die vielen Opfer des Bebens ab.
Dann betritt er die Bühne. Es geht erst einmal um den Wiederaufbau der Region. Kilicdaroglu verspricht umfassende Hilfen und kritisiert das Krisenmanagement von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Spaltung sei der Leitfaden der Regierung, er aber wolle Präsident für alle Bürger im Land sein.
Nach dem ersten Wahlgang Stimmung gegen Syrer
Schließlich kommt er zu dem Thema, das er seit dem ersten Wahlgang besonders in den Fokus seines Wahlkampfs gerückt hat. "Die Regierung hat mit ihrem EU-Deal die Türkei in eine Abstellkammer für Flüchtlinge verwandelt", schimpft er.
"Wir werden das, wenn wir an der Macht sind, nicht weiter zulassen und unser Land davon befreien!" Dafür gibt es lautstarken Beifall von den Zuschauern. Innerhalb von zwei Jahren wolle er alle Syrer nach Hause schicken, so Kilicdaroglu. Auf freiwilliger Basis betont er.
Angst vor der Abschiebung
Doch die wenigsten würden freiwillig gehen. Auch Ferdan Ahmad nicht. Er ist 2015 in die Türkei geflohen, mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester. Der 25-jährige Syrer stammt aus einer Hoteliersfamilie, geblieben ist ihnen nichts.
Ahmad verdient sein Geld in Istanbul als Mitarbeiter in einem Imbissladen. Zu seinen türkischen Nachbarn habe er ein gutes Verhältnis, betont er. Diskriminierung habe er nicht wirklich erlebt. Nun verfolgt er mit großer Sorge die jüngsten Aussagen von Kilicdaroglu.
Zurück nach Syrien zu müssen, sagt Ahmad, wäre für ihn ein Alptraum. "Es ist völlig unklar, was Assad mit uns machen würde. Entweder lande ich im Gefängnis oder muss zum Militärdienst. Dann müsste ich meine eigenen Brüder und Schwestern ermorden. Wenn die Türkei mich zu Assad schickt, würde ich mich vorher an der Grenze eher umbringen."
Ablehnung wächst
Wie Ahmad geht es den meisten der rund vier Millionen syrischen Flüchtlingen im Land. Viele haben ausgesprochene Angst vor Machthaber Baschar al-Assad. In der Türkei haben sie Zuflucht gefunden, leben großteils in normalen Wohngebieten, nicht isoliert in Auffanglagern oder Flüchtlingscamps.
Doch in in der türkischen Gesellschaft wächst seit Jahren die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen, verstärkt durch die Wirtschaftskrise im Land. Aus fast allen Teilen der Gesellschaft und politischen Lagern hört man: Die Kapazitätsgrenze sei erreicht.
Auch auf der Wahlkampfveranstaltung in Antakya, wo vor dem Beben mehrere Hunderttausend Syrer lebten. Nun sollten die Syrer gehen oder es sollten sich andere um sie kümmern, sagt eine Frau Mitte 40, zum Beispiel die EU. Die mache es sich viel zu leicht, indem sie der Türkei Geld zahle und jegliche Verantwortung von sich weise.
Plötzlich aggressive Rhetorik
Dass Erdogan sich darauf eingelassen hat, damit versucht Kilicdaroglu nun kurz vor der Stichwahl Stimmen zu gewinnen. "Entscheide dich - für die Türkei!", lautet das neue Wahlkampfmotto. In Antakya steht zudem auf blauen Postern: "Entscheide dich, bevor die Flüchtlinge das Land übernehmen!"
Es ist eine Rhetorik, die nicht nur deutlich aggressiver ist als noch vor wenigen Wochen, sondern auch alles andere als sozialdemokratisches Gedankengut. Um Erdogan von der Spitze stoßen zu können, braucht Kilicdaroglu die Stimmen der bisher Unentschlossenen. Und er braucht die Stimmen derer, die im ersten Wahlgang für den dritten Kandidaten, Sinan Ogan, einen Ultranationalisten, gestimmt hatten.
Erdogan rückt Opposition in Terrorismus-Nähe
Ogan hat inzwischen eine Wahlempfehlung für Erdogan abgegeben. Viele bezweifeln aber, dass diejenigen, die ihn wählten, dieser Empfehlung geschlossen folgen. Das müssen sie wohl auch nicht, denn auf Basis des ersten Wahlgangs, würde Erdogan knapp ein Fünftel von Ogans Stimmen genügen, um zu gewinnen.
Laut Umfragen - von denen die meisten allerdings beim ersten Wahlgang daneben lagen - geht Erdogan nun als Favorit in die Stichwahl. Entsprechend selbstbewusst tritt er auf: "Unser Volk hat denen, die mit Hilfe von Terroristen an die Macht kommen wollen, die rote Karte gezeigt." In seinem Wahlkampf diffamierte er immer wieder die Opposition und rückte sie in Terrorismus-Nähe - teils mit Deep-Fake-Methoden.
Zahlreiche Male hatte die AKP beispielsweise ein angebliches Wahlkampfvideo Kilicdaroglus gezeigt, in dem Murat Karayilan zu sehen ist, ein Mitbegründer der verbotenen PKK, die in der Türkei, Europa und den USA als terroristische Vereinigung gilt. Die Botschaft ist: Ein Terrorist unterstützt den Herausforderer. Es ist ein manipulierter Zusammenschnitt, den auch zahlreiche regierungsnahe Fernsehsender unkommentiert sendeten. Kilicdaroglu geht gegen die Verbreitung inzwischen juristisch vor.
Auch Erdogan will Millionen Syrer zurückführen
Doch auch Erdogan setzt im Wahlkampfendspurt verstärkt auf das Thema Flüchtlinge. Seine Regierung präsentiert in den letzten Tagen neue Bauprojekte und fast fertige Retortenstädte in den türkisch kontrollierten Gebieten Nordsyriens. Eine Million Syrer wolle man zeitnah dorthin schicken, sagt Erdogan - unter dem Motto: "Freiwillig, sicher und mit Stolz!"
Der Syrer Ferdan Ahmad hofft, dass vieles von dem, was derzeit gesagt wird, so kurz vor der Wahl nur Populismus ist und sich nicht erfüllt. Es sei eine schwierige Woche. In die türkische Politik mische er sich nicht ein, betont Ahmad mehrmals. Doch er hoffe, hierbleiben und weiter arbeiten zu können - auch nach der Wahl am kommenden Sonntag.