Syrische Flüchtlinge Die neue Heimat
Fast vier Millionen Syrer haben in der Türkei Zuflucht gefunden - auch im Rahmen des Flüchtlingspakts mit der EU. Während die jungen Flüchtlinge sich integrieren, träumen die älteren von Rückkehr.
Sie haben sich in Sicherheit bringen können, fern der Kriegsschauplätze. Doch für die geflüchteten syrischen Familien in der Türkei wächst die Unsicherheit über ihre Zukunft mit jedem Tag. Fast alle 3,7 Millionen Syrer genießen in der Türkei nur einen temporären Schutz als Flüchtlinge. Nur knapp über 200.000 Flüchtlinge besitzen bis heute eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Rund 100.000 erhielten die türkische Staatsbürgerschaft, so die Zahlen des türkischen Innenministeriums
Fünf Jahre ist es her, dass die EU und die Türkei den sogenannten Flüchtlingspakt schlossen, inmitten großer Flüchtlingsbewegungen von Syrien über die Türkei Richtung Europa. Ankara verpflichtete sich damals, alle von den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen und gegen Schlepperbanden vorzugehen, die Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland bringen.
Die EU wiederum sicherte zu, für jeden zurückgenommenen Syrer einen registrierten syrischen Flüchtling aus der Türkei zu übernehmen. Vor allem aber stellte Brüssel der Regierung Erdogan rund sechs Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei bereit.
Die EU ist zufrieden
Am Jahrestag des Abkommens bezeichnet Nikolaus Meyer-Landrut, Botschafter der Europäischen Union in der Türkei, die Übereinkunft als Erfolg - "einmal dadurch, dass die Anzahl der Flüchtlinge die nach Europa gekommen ist, deutlich zurückgegangen ist. Damit sind auch Menschenleben gerettet worden", so der EU-Botschafter gegenüber dem ARD-Studio Istanbul.
Tatsächlich kamen von 2017 bis 2020 96 Prozent weniger Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland als zuvor. Auch gingen die Todesfälle in der Ägäis rapide zurück. Zum anderen, so betont Meyer-Landrut, sei mit den Finanzhilfen von rund sechs Milliarden Euro "den Flüchtlingen vor Ort konkret geholfen worden - und auch der Türkei".
"Überleben" dank des Flüchtlingspakts
In der südtürkischen Stadt Gaziantep, unweit der syrischen Grenze, haben wir uns mit der Flüchtlingsfamilie Ayse verabredet. Wir treffen sie in einem der Armenviertel der Zwei-Millionen-Stadt. Die siebenköpfige Familie aus Aleppo hat wie fast alle syrischen Flüchtlinge inzwischen eine Wohnung gefunden. Nur noch wenige Syrer müssen in Lagern leben - das ist mit ein Erfolg der Hilfsprogramme der EU.
Die Akademiker-Familie Ayse musste vor dem "Islamischen Staat" fliehen. Ihr Haus wurde zerstört. Mit Hilfe von Geldern aus dem Flüchtlingsabkommen hat die Familie ein kleines Geschäft mit selbst produzierten syrischen Spezialitäten aufbauen können. Die Kinder konnten oder können noch die Schule besuchen.
Die 18-jährige Tochter Raniya hat gerade ihr Abitur geschafft und will nun Jura studieren. Verfolgung und Not haben sie stark gemacht und sie hat ein klares Ziel vor Augen: "Wenn ich hier in der Türkei heiraten sollte oder Karriere mache, dann glaube ich, dass ich wohl hier bleiben werde."
Eine neue Existenzgrundlage: Familie Ayse stellt gemeinsam syrische Spezialitäten her, die sie in Ganziatep verkaufen.
Bleiben oder gehen?
Mutter Fatma El Musta Ayse treffen diese Worte sehr. Denn sie und ihr Mann haben ganz andere Pläne: "Mit den Diplomen und der Ausbildung unserer Kinder wollen wir zurück ins zerstörte Syrien und es neu beleben und wiederaufbauen", sagt die Mutter.
Doch Raniya, die inzwischen auch viele türkische Freunde hat und deren Erinnerungen an Syrien immer mehr verblassen, zeigt sich selbstbewusst, riskiert ganz offen den Konflikt mit ihren Eltern: "Ich will bleiben. Die Türkei ist ein modernes Land, man fühlt sich hier als Frau auch viel freier. Hier hat man als Frau zudem mehr Rechte. Die syrische Kultur verlangt dagegen, dass die Frau das Haus nicht verlässt, also praktisch eingesperrt ist."
Ein Konflikt, der viele Familien belastet, obwohl er auch für den Erfolg des Programms und von Projekten steht, die auf Bildungs- und Berufsqualifikation setzen. Eine gemeinsame Studie der Universität von Gaziantep und der Hilfsorganisation CARE belegt die Bereitschaft zur Integration. Sie zeige, "dass die große Mehrheit der jungen Generation überlegt, hier zu bleiben. Sie kennen kein anderes Zuhause. Und ihre Erinnerungen sind mit der Türkei verbunden", beschreibt Salah Hamwi von CARE, selbst ein Flüchtling aus Aleppo, das Ergebnis der Studie.
Das Erlernte weitergeben: Raniye Ayse hat sich so sehr integriert, dass sie nun anderen Syrerinnen Türkisch-Unterricht geben kann.
Wird es einen neuen Pakt geben?
Die Frage nach der Zukunft des Abkommens ist aber bislang unbeantwortet. Die Türkei fordert eine Erneuerung und Ausweitung des Flüchtlingsdeals. 40 Milliarden Euro habe sein Land für die Flüchtlingskrise tatsächlich aufbringen müssen, klagt Präsident Recep Tayyip Erdogan. Es müsse "eine gerechte Lastenteilung zwischen der Türkei und dem Rest Europas geben", so die Regierung. Auch solle die EU ihre Zusagen in puncto Zollunion, Visa-Pflicht für türkische Bürger und EU-Beitritt erfüllen. Trotz des Flüchtlingsabkommens sind Brüssel und Ankara in diesen Fragen kaum einen Schritt weitergekommen.
Außenpolitisch hat Präsident Erdogan die Flüchtlingsproblematik immer wieder für sich nutzen können und Druck auf Europa ausgeübt. Innenpolitisch wächst dagegen die Unzufriedenheit der türkischen Bevölkerung über die Präsenz der syrischen Flüchtlinge. Aktuelle Umfragen bestätigen die Befürchtung vieler Türken, dass die Flüchtlinge zu viel Geld kosten und inmitten einer Wirtschaftskrise auch als billige Arbeitskräfte Einheimischen die Jobs wegnehmen könnten.
Dennoch ist beiden Seiten an einer Neuauflage des Flüchtlingsdeals gelegen. EU-Botschafter Meyer-Landrut betonte gegenüber der ARD, dass der Europäische Rat sich ja grundsätzlich dafür ausgesprochen habe. Er hoffe, "dass die EU Wege finden wird, ihre Unterstützung für die notleidenden Menschen fortzusetzen".