Nobelpreisträgerin Ressa "Desinformation industriellen Ausmaßes"
Nicht zuletzt mit der Hilfe von Social Media hat Diktatoren-Sohn Marcos die Wahl auf den Philippinen gewonnen. Friedensnobelpreis-Trägerin Maria Ressa spricht im Interview von einer gigantischen Manipulation und erkennt eine "Blaupause".
ARD: Der Name Marcos stand für Diktatur und Menschenrechtsverletzungen auf den Philippinen. 36 Jahre nach dem Sturz der Diktatur wählt die Mehrheit einen Spross der Familie zum Präsidenten. Wie konnte es dazu kommen?
Maria Ressa: Es ist die Folge einer Desinformation industriellen Ausmaßes. Wenn Lügen zu "Fakten" gemacht werden. Seit 2014 wurden die sozialen Medien systematisch dafür genutzt. Geschichten wie: "Marcos' Vater war der größte Anführer, den diese Nation jemals hatte", oder: "Wenn Marcos Junior gewinnt, dann bekommen die Armen das Geld zurück." Das ist auf eine brillante Weise diabolisch.
ARD: Wie kann es sein, dass die Verbrechen der Diktatur vergessen wurden?
Ressa: Mit Hilfe der sozialen Netzwerk lassen sich Erinnerungen löschen. Diese Methode nutzt auch Russland in Bezug auf die Krim und die Ukraine: Erst unterdrücken, dann die Erinnerung austauschen. So ist es bei uns gelaufen - und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Sie mit diesem Effekt konfrontiert werden. Denn die Netzwerke liefern uns die entsprechenden Botschaften - wie Facebook, die größte Plattform für die Verbreitung von Nachrichten, mit etwa drei Milliarden Nutzern weltweit.
"Am Ende gibt es keine gemeinsame Realität mehr"
ARD: Welche Folgen hat das für die Demokratie?
Ressa: Die sozialen Netzwerke spalten und radikalisieren. Es geht nicht um Redefreiheit. Es geht darum, was am stärksten verbreitet wird. Wir wissen aus Studien, dass sich Lügen, Ärger und Hass schneller und weiter verbreiten. Fakten haben keine Chance. Aber wenn sie keine Fakten haben, dann kennen Sie die Wahrheit nicht. Dann können Sie niemandem vertrauen. Am Ende gibt es keine gemeinsame Realität mehr. Wie können Sie so die Demokratie bewahren, das Klima retten, die Corona-Krise meistern? Das ist es, was wir auf den Philippinen erlebt haben.
"Existenzielle Bedrohung für die Demokratie - weltweit"
ARD: Das könnte auch in anderen Ländern passieren?
Ressa: Das ist meine größte Sorge. Dieses Jahr könnte für die Demokratie weltweit von existenzieller Bedeutung sein. Es finden mehr als 30 Wahlen rund um den Globus statt. Zum Beispiel in Brasilien im Oktober und in den USA im November. Was passiert, wenn die Wählenden gezielt beeinflusst werden und die Fakten nicht kennen?
Erinnerungen an die deutsche Geschichte
ARD: Was kann man tun, um die Demokratie zu schützen?
Ressa: Die EU hat einen Aktionsplan mit zwei Gesetzen: Das Gesetz für digitale Dienste und das Gesetz über die digitalen Märkte. Das ist bisher die fortgeschrittenste Gesetzgebung auf der Welt. Es muss mehr getan werden. Wenn Du die Fakten nicht hast, dann verlierst Du den freien Willen. Deutschland kennt das.
"Wie eine Waffe eingesetzt"
ARD: Welche Konsequenzen hat die Entwicklung für Ihre journalistische Arbeit?
Ressa: Seit 2016 werde ich attackiert. Das Narrativ lautet: "Journalismus ist kriminell." Die sozialen Medien werden dabei wie eine Waffe eingesetzt. 2019 ließ die philippinische Regierung zehn Haftbefehle gegen mich ausstellen. Wenn ich ins Ausland reisen will, muss ich um Erlaubnis bitten. Das ist wie ein Tod durch tausend einzelne Schnitte. Ermöglicht durch Social Media.
Macht Marcos es wie sein Vater - oder besser?
ARD: Wie geht es auf den Philippinen weiter?
Ressa: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Marcos junior es besser machen wird als sein Vater, der mehr als 20 Jahre an der Macht war. Seinen Eltern wird vorgeworfen, damals zehn Milliarden US-Dollar gestohlen zu haben. Später hat die Regierung etwa drei Milliarden zurückgeholt. Wird eine neue Marcos-Regierung das auch versuchen? Das wird interessant! Außerdem gibt es hier einen Feiertag zur Erinnerung an den Volksaufstand - wird der jetzt umgedeutet? Er hat Rechtsstreitigkeiten, zahlte Steuern nicht. Ich habe Marcos junior zum Interview mit "Rappler" eingeladen.
"Hoffentlich wird der Rechtstaat überleben"
ARD: Sind Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen bei "Rappler" in Gefahr?
Ressa: Wir waren schon in den letzten sechs Jahren in Gefahr. Aber wir sagen uns: Die Mission des Journalismus ist heute wichtiger denn je. Wir hoffen einfach das Beste. Ich könnte für den Rest meines Lebens ins Gefängnis wandern. Diese Anklagen gegen mich hätten niemals verhandelt werden dürfen. Dagegen kämpfe ich vor Gericht. Hoffentlich wird der Rechtstaat überleben.
Das Interview führte Ulrich Mendgen, ARD-Studio Tokio