Ein Jahr nach dem 7. Oktober Die Wut der arabischen Nachbarn
Der Krieg in Gaza verstört weite Teile der arabischen Welt - auch in den Ländern, die gute Kontakte nach Israel haben und sich vor dem Massaker der Hamas auf dem Weg der Annäherung an Israel befanden. Ein Überblick.
Libanon - die Front im Norden
Gleich am 8. Oktober begann die schiitische Hisbollah-Miliz damit, aus dem Südlibanon israelische Ziele zu beschießen, nach Angaben der Islamisten aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza. Das israelische Militär nahm daraufhin Ziele im Libanon ins Visier. Auf beiden Seiten der Grenze verließen Zehntausende Menschen wegen des gegenseitigen Beschusses ihre Dörfer und Städte.
Der Konflikt eskalierte weiter, nachdem Ende Juli in einer Stadt auf den von Israel besetzten Golanhöhen zwölf Kinder getötet wurden, vermutlich durch eine Rakete der Hisbollah. Danach intensivierte die israelische Armee ihre Luftangriffe, zielte zunehmend auf hochrangige Kommandeure der vom Iran unterstützten Miliz.
Seit Ende September stehen sich die Hisbollah und Israel in einem offenen Krieg gegenüber. Nach dem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einem Angriff mit tonnenschweren Bomben auf das Hauptquartier der Miliz im Süden der Hauptstadt Beirut getötet wurde, setzt die israelische Armee inzwischen auch Bodentruppen im Libanon ein.
Auch wenn die israelische Regierung betont, nur gegen die Hisbollah zu kämpfen, nehmen viele Libanesen unabhängig von ihrer Konfession dies als Krieg gegen ihr Land wahr - hunderttausende Libanesen sind geflohen, kommen in Notunterkünften unter oder haben das Land in Richtung Syrien verlassen.
Ägyptens Sorgen um die eigenen Grenzen
Seit 45 Jahren besteht der Frieden zwischen Ägypten und Israel - seit einem Jahr wird er auf eine harte Probe gestellt. Außer Israel hat nur Ägypten eine Grenze zum Gazastreifen. Der Vorwurf der Israelis: Das Versagen der ägyptischen Grenzschützer könnte Mitschuld sein am Erstarken der Hamas, und damit letztlich am Terrorangriff vom 7.Oktober. Es werde angenommen, sagt Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dass aus Ägypten in großem Maße Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt wurden.
Ägypten weist das von sich, doch die Vorwürfe belasten das israelisch-ägyptische Verhältnis. Dazu sieht Ägypten den Gaza-Krieg mit Zehntausenden Toten und Verletzten als Bedrohung der eigenen Sicherheit an. Nach Ausbruch des Krieges stellte Präsident Abdel Fattah al-Sisi schnell klar: Hilfe nach Gaza schicken? Ja, aber einen Massenexodus von Palästinensern in Richtung Sinai-Halbinsel: nein, den wolle Ägypten auf jeden Fall verhindern. Würden alle Menschen den Gazastreifen verlassen, könnte Israel das Land übernehmen. Das gelte es zu verhindern, argumentierte der ägyptische Präsident.
Kritiker meinen, das sei auch ein Vorwand, denn die Ägypter befürchteten auch, dass ihr wirtschaftlich angeschlagenes Land mit der möglicherweise dauerhaften Aufnahme hunderttausender Palästinenser überfordert wäre. Ein paar Tausend Verwundete und Waisenkinder ließ Ägypten medienwirksam über die Grenze, damit sie in Krankenhäusern behandelt werden konnten. Trotzdem befinden sich mittlerweile Zehntausende Palästinenser im Land. Es gibt Berichte über korrupte Grenzbeamte und Schmuggler, die Unsummen dafür verlangen, Hilfsbedürftige oder Geflüchtete ins Land zu bringen.
Intensiv stürzte sich Ägypten in die Vermittlung zwischen Israel und der Hamas, gemeinsam mit dem Emirat Katar und der US-Regierung. Als Vermittler vertritt die Regierung in Kairo auch eigene Interessen. Das Land sperrt sich weiterhin gegen die Forderung der Israelis, dauerhaft militärisch im Grenzstreifen zwischen Ägypten und Gaza präsent zu sein. Das wird von vielen in Kairo als Eingriff in die eigene Souveränität gesehen.
Jordaniens Dilemma
In Jordanien, Israels östlichem Nachbarland, gibt es seit Beginn des Gaza-Krieges regelmäßig Demonstrationen gegen Israel. Vielen Jordaniern geht das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung besonders nahe: Das liegt auch daran, dass so viele Jordanier palästinensische Wurzeln haben: "Wir sind in dem Bewusstsein groß geworden, dass wir eins sind. Die meisten Jordanier sind halb jordanisch, halb palästinensisch - wir sind wie Brüder und Schwestern", sagt eine Café-Betreiberin in Amman.
Auch wenn die jordanische Bevölkerung klar auf Seiten der Palästinenser in Gaza steht, sei der 1994 geschlossene Frieden mit Israel nicht gefährdet, meinen Experten. Beide Länder haben eine lange Grenze miteinander, das wasserarme Jordanien ist auf Trinkwasser aus Israel angewiesen.
Jordaniens Regierung ist eng mit den USA verbündet und auf Gelder aus Washington und der EU angewiesen. Seit Monaten setzt sie auf eine Waffenruhe zwischen Israels Armee und der Hamas sowie auf eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina.
Von einer Eskalation habe kein Land in der Region Vorteile, sagte kürzlich Jordaniens König Abdallah. Noch lautstärker meldet sich Außenminister Ayman Safadi mit Kritik zu Wort: Die einzige und wirkliche Gefahr in der Region sei das Handeln der israelischen Regierung, und die internationale Gemeinschaft versage dabei, weiteres Leid zu verhindern.
Die Führung des Landes befindet sich in einem Dilemma. Zwar hat Jordanien als enger Verbündeter der USA jüngst dabei geholfen, die iranischen Raketen auf Israel abzuwehren. Aber: Der Druck aus der eigenen Bevölkerung nimmt zu. Je länger der Gaza-Krieg dauert, desto schwieriger dürfte es werden, der Wut auf Israel - besonders auch der jungen Menschen - etwas entgegenzusetzen.
Attacken aus dem Jemen
Im Jemen drücken die Huthi ihre angebliche Solidarität mit den Palästinensern aus, indem sie Raketen auf Israel abfeuern. Die Miliz ist verbündet mit der Hamas und mit der Hisbollah im Libanon. Als bekannt wurde, dass deren Chef Nasrallah bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, teilte ein Huthi-Sprecher mit, man habe den Tel Aviver Flughafen mit einer Rakete beschossen. "Unsere Streitkräfte", drohte er, "werden nicht davor zurückschrecken, die Eskalationsstufe zu erhöhen."
Seit einem Jahr stellen sich die Huthi im Jemen rhetorisch und militärisch an die Seite der Palästinenser. Antiisraelische Haltung - das ist Konsens im Jemen, zumal bei den Huthi, deren Flagge sogar die stramm antisemitische Losung "Tod für Israel, verflucht seien die Juden" trägt.
Für den jüdischen Staat sind sie in mehr als 1600 Kilometern Entfernung keine große Bedrohung, wirkungsvoller sind ihre Angriffe auf die Schifffahrt im Roten Meer. Bis Mitte September wurden bei mehr als 70 solcher Angriffe zwei Schiffe versenkt, eines gekidnappt und mindestens drei Seeleute getötet.
Die Zahl der Handelsschiffe auf der gefährdeten Route hat sich inzwischen mehr als halbiert. Zum Schutz der Schiffe griffen die USA, Großbritannien, Deutschland und andere Staaten ab Januar militärisch ein, und auch Israel griff mehrfach Ziele der Huthi im Jemen an.
Die saudisch-israelische Annäherung ist vorerst vorbei
Einige der ölreichen Autokratien am Golf haben lange darauf hingearbeitet, ihre Beziehungen zu Israel zu verbessern. Mohammed bin Salman, der mächtige Kronprinz Saudi-Arabiens, hatte kurz vor dem Hamas-Massaker am 7. Oktober angedeutet, dass eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen nur eine Frage der Zeit sei.
Ein Jahr später klingt er ganz anders: "Die palästinensische Frage steht für uns an erster Stelle. Wir verurteilen die Verbrechen der israelischen Besatzungsmacht gegen das palästinensische Volk." An eine Annäherung sei derzeit nicht zu denken, auch wenn Israels Regierungschef Netanyahu nicht müde wird, von einer saudisch-israelischen Achse zu sprechen.
Auch in den Golf-Staaten hat der Krieg in Gaza die Wut vieler Menschen auf Israel angestachelt. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben ihre Beziehungen zu Israel dennoch nicht gekappt. 2020 hatten sie diese im Rahmen der sogenannten Abraham-Abkommen aufgenommen. Für die Emirate sei dies in der derzeitigen Situation auch eine Chance, sagt Sebastian Sons, Experte für die Golf-Staaten beim Bonner Thinktank Carpo: "Sie nutzen ihre Zugänge zur israelischen Regierung, um in Gaza humanitäre Hilfe zu leisten."
Von allen Golfstaaten hat Katar hat am stärksten versucht, Einfluss zu nehmen auf den Gaza-Krieg: als Vermittler an der Seite Ägyptens und der USA bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln aus der Hand der Hamas.
Tamim bin Hamid al Thani, der Emir Katars, machte aber auch deutlich, dass sein Land, in dem die Hamas seit Jahren eine Vertretung hat, nicht neutral ist. Für den ausbleibenden Erfolg der Verhandlungen macht er nur die israelische Regierung verantwortlich. Die sei kein Partner für Frieden: "Wir erleben derzeit keinen Friedensprozess, sondern einen Genozid."
Harte Worte, die in Europa viele verstören, in der arabischen Welt jedoch nach einem Jahr Krieg in Gaza bei vielen auf Zustimmung stoßen.