Israels Reservisten protestieren "Was wir in Gaza tun, ist unmoralisch"
Der Protest gegen die Regierung Netanyahu reicht bis in Israels Armee. Reservisten mischen sich unter Demonstranten und kritisieren mangelnden Einsatz für die Geiseln. Und sie wehren sich gegen die Kriegsführung - aus eigenem Erleben.
"Alle!", schreit Michael Ofer Ziv. "Sofort!", antwortet die Menge. Ofer Ziv hat ein Megafon in der Hand. Zusammen mit tausenden anderen steht er auf einer Kreuzung in Tel Aviv und fordert, dass die israelische Regierung sofort alle Geiseln der Hamas aus dem Gaza-Streifen nach Hause holt. Was Ofer Ziv von den meisten anderen hier unterscheidet: Er war selbst im Einsatz gegen die Terrororganisation - und spricht jetzt öffentlich darüber. Denn aus seiner Sicht läuft dabei einiges falsch.
"Von den Leuten, die ich getroffen habe, sagt niemand: 'Ich will so viele Menschen in Gaza töten, wie möglich.' Aber es fühlt sich definitiv so an, dass sich niemand für die palästinensischen Zivilisten interessiert", so Ziv ein paar Tage nach der Demonstration. Der 29-Jährige sitzt auf einer Parkbank im Zentrum von Tel Aviv. Er ist trainiert, wirkt selbstbewusst, überlegt genau, was er antwortet.
Michael Ofer Ziv will nicht mehr über das schweigen, was er als Soldat gesehen hat.
Einsätze am Bildschirm überwacht
Der Reservist war im vergangenen Herbst im Einsatz. Aus dem Hauptquartier seiner Infanterie-Brigade überwachte der Offizier am Bildschirm die Operationen seiner Einheit im Norden Gazas.
Der Angriff an einer Kreuzung des sogenannten "humanitären Korridors" ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: "Dann sieht man, wie das Gebäude einfach verschwindet und alles in alle Richtungen fliegt. Ich weiß also nicht, wie weit das geht. Sind außerhalb unseres Bildes Menschen gewesen? Haben wir etwas übersehen? Diese Fragen stelle ich mir."
Wie der 29-Jährige erklärt, gibt es für Luftangriffe klare Regeln und Abläufe. Für Angriffe an sogenannten "humanitären Korridoren", an Krankenhäusern und Schulen brauche es speziellen Freigaben. Aber die habe es fast immer gegeben.
Keine klaren Regeln für Waffengebrauch
Schriftliche Einsatzregeln für die Soldaten am Boden hat Ofer Ziv nach seinen Worten nie gesehen. In aktiven Kriegszonen, für die die Armee zuvor Evakuierungen angeordnet habe, wird nach Darstellung des Reservisten auf alles geschossen: "Jedes Mal, wenn wir jemanden Unbekannten in der Gegend herumlaufen sehen haben, wurde er erschossen. Jedes Mal, soweit ich mich erinnern kann."
Zugleich betont Ziv: Die Hamas setze Zivilisten als Kämpfer ein. Auf der Straße seien sie unbewaffnet. Die Waffen seien in Verstecken deponiert. Die israelischen Soldaten würden auch aus Schulen angegriffen.
Immer drängendere Fragen
Je mehr Einsätze der Offizier am Bildschirm des Hauptquartiers verfolgt, um so mehr hinterfragt er sie. Er frage sich zum Beispiel, ob bei einzelnen Angriffen immer rein militärische Motive eine Rolle spielen? "Wollten die Leute sich auch rächen und die Schule zerstören? Weil sie einfach die Palästinenser hassen oder die Bewohner von Gaza oder was auch immer?"
Nach seinen Worten gibt es unter den Soldaten auch Siedler, die früher im Gaza-Streifen gelebt haben. Bis 2005 gab es etwa 20 israelischen Siedlungen dort. Dann wurden sie von den israelischen Behörden geräumt.
Dutzende Reservisten verweigern Dienst
Die Berichte des Reservisten lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Aber sie decken sich mit den Schilderungen anderer Soldaten in israelischen Medien. Die meisten davon wollen anonym bleiben. Einer berichtet, dass seine Einheit ohne ersichtlichen Grund ein Wohnhaus in Gaza niedergebrannt habe.
Mehr als 40 Reservisten haben einen Brief unterschrieben, in dem sie erklären, dass sie weitere Einsätze verweigern wollen. Michael Ofer Ziv ist einer von ihnen.
Die israelische Armee betont, dass sie sich internationalen Regeln und dem Kriegsrecht verpflichtet fühlt. Auf eine Anfrage des ARD-Studios Tel Aviv antwortet das Militär: "Die israelischen Streitkräfte schießen nicht ohne Grund auf nicht identifizierte Personen." Von allen Soldaten werde erwartet, bei ihren Einsätzen Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden. Außergewöhnliche Vorfälle werden nach Aussage der Armee von einem unabhängigen Expertengremium untersucht.
"Ich kann der Regierung nicht vertrauen"
Zurück auf der Demonstration in Tel Aviv. Ofer Ziv kommt fast jede Woche hier her. Er beschreibt sich politisch als einen Linken. Der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wirft er vor, zu wenig für die Freilassung der Geiseln zu tun. Bisher konnte die Armee sieben Geiseln aus der Gewalt der Hamas befreien. Mehr als hundert wurden über ein Abkommen mit der Terrororganisation freigelassen.
Ofer Ziv will seinen Beitrag leisten, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Deshalb erzählt er von seinen Erlebnissen im Gaza-Krieg: "Ich kann der Regierung nicht vertrauen. Ich glaube, dass das, was wir in Gaza tun, unmoralisch ist. Es ist sehr, sehr, sehr problematisch."
Der Weg an die Öffentlichkeit könnte für ihn selbst zu einem Problem werden. In den nächsten Tagen schon könnte die Armee den Reservisten wieder zum Dienst einberufen. Eine Verweigerung kann mit Gefängnis bestraft werden.
Der 29-Jährige will sich davon aber nicht einschüchtern lassen: "Das macht mir Sorgen. Aber im Moment habe ich mehr Angst davor, das zu tun, was sie von uns in Gaza wollen, als davor, ins Gefängnis zu gehen."
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde aktualisiert und um eine Stellungnahme des israelischen Militärs ergänzt, die erst nach Veröffentlichung des Beitrags eintraf.