Fast 100.000 Menschen geflohen Kaum noch Armenier in Bergkarabach
Nach der Militäroffensive Aserbaidschans haben inzwischen fast 100.000 Armenier ihre Heimat in Bergkarabach verlassen. UN-Generalsekretär Guterres kündigte unterdessen eine UN-Mission an.
Die Massenflucht der armenischen Bewohner von Bergkarabach hält unvermindert an: Wie die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete, kamen bis Freitag nach Zahlen der armenischen Regierung 99.000 Menschen aus der Kaukasusregion in Armenien an.
Laut der Nachrichtenagentur AFP kamen zahlreiche Menschen in der armenischen Grenzstadt Goris an. Nach den jüngsten Angaben der Regierung in Eriwan verließen inzwischen mehr als 80 Prozent der 120.000 armenischen Bewohner von Bergkarabach die Region.
Am 19. September hatte Aserbaidschan eine großangelegte Militäroffensive in der Region gestartet. Bereits einen Tag erklärten die dortigen pro-armenischen Kämpfer ihre Kapitulation. Am Donnerstag dann wurde die Auflösung der selbsternannten Republik Bergkarabach zum 1. Januar 2024 angekündigt. Bergkarabach, das überwiegend von Armeniern bewohnt war, werde damit "aufhören zu existieren", hieß in einem Dekret.
Zahl der Todesopfer nach Explosion gestiegen
Derweil stieg die Zahl der Todesopfer der Explosion eines Treibstofflagers in Bergkarabach nach Polizeiangaben auf mindestens 170 Menschen. Die Zahl der Verletzten beläuft sich den Behörden der selbsternannten Republik zufolge auf 349. Die Unglücksursache blieb unklar. An dem Treibstofflager hatten sich viele Menschen nach der aserbaidschanischen Militäroffensive in Bergkarabach mit Benzin für ihre Flucht nach Armenien eingedeckt.
Stéphane Dujarric, Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, kündigte unterdessen eine UN-Mission in Bergkarabach an. Das zehnköpfige Team unter der Leitung von Mitarbeitern des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten werde bereits ab dem Wochenende "versuchen, die Lage vor Ort zu bewerten und den humanitären Bedarf zu ermitteln, sowohl für die Menschen, die bleiben, als auch für die, die fliehen".
Angesichts der "katastrophalen humanitären Lage" vor Ort bat die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) um Unterstützung in Höhe von rund 20 Millionen Euro. Krankenhäuser seien am Ende ihrer Ressourcen, zudem würden angesichts einsetzender Kälte "dringend" Unterkünfte benötigt, erklärte die IFRC-Regionaldirektorin für Europa, Birgitte Bischoff Ebbesen.
Sorge vor weiterem Angriff Aserbaidschans
Der armenische Botschafter in Deutschland, Viktor Yengibaryan, befürchtet nach der Eroberung von Bergkarabach auch einen Angriff Aserbaidschans auf das Nachbarland Armenien selbst. "Wir hören aus Baku sehr viel Aggressivität, Bedrohungen und Hassrede, nicht nur gegen Bergkarabach sondern auch gegen die Republik Armenien", sagte Yengibaryan dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), befürchtet, dass Aserbaidschan Armenien als nächstes angreifen könnte. "Wir müssen damit rechnen, dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew abermals versucht, militärisch Fakten zu schaffen. Wir haben es mit einem autoritären Herrscher zu tun, der keine Zeit am Verhandlungstisch verschwenden will", sagte er dem "Tagesspiegel".
Armenien sei "militärisch komplett unterlegen". Er kritisierte mangelnde Unterstützung der EU für Armenien. Roth fordert Visaliberalisierungen, Hilfen, einen von der EU moderierten Friedensprozess sowie Sanktionen gegen Aserbaidschan.
Konflikt um Bergkarabach
Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, es lebten dort bislang aber überwiegend ethnische Armenier. Die Region hatte sich 1991 nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.
Aserbaidschan und Armenien stritten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Region und führten deshalb zwei Kriege, zuletzt 2020. Damals hatte das lange mit Armenien verbündete Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6.500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang.