Palästinensische Gebiete "Anerkennung hat politisch eine hohe Bedeutung"
Neben Norwegen, Irland und Spanien haben bereits 143 UN-Länder die palästinensischen Gebiete als unabhängigen Staat anerkannt. Das hat insbesondere politisch eine hohe Bedeutung, erklärt der Völkerrechtler Pierre Thielbörger.
ARD: Wann ist ein Staat völkerrechtlich ein Staat?
Pierre Thielbörger: Die Anerkennung eines Staates durch andere Staaten hat "deklaratorischen Charakter" im Völkerrecht. Das heißt: Sie ist selbst keine eigene Voraussetzung für die Staatlichkeit. Entscheidend ist vielmehr, ob der "neue Staat" ein abgrenzbares Staatsvolk auf einem bestimmbaren Staatsgebiet hat und ob er mit gefestigter Staatsgewalt auftritt.
Aber wer entscheidet, ob eine Entität diese drei Kriterien erfüllt? Auf diese Frage geben die Staaten ganz verschiedene Antworten. Die Anerkennung durch andere Staaten und deren Bereitschaft, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, sind also zumindest Indizien, wie Staaten für sich die Frage der Staatlichkeit einer anderen Entität beantworten. Anerkennungen haben insgesamt politisch eine hohe Bedeutung, völkerrechtlich ist diese Bedeutung geringer.
ARD: Sind die Palästinensergebiete Westjordanland und Gazastreifen nach dieser Definition ein Staat?
Thielbörger: Die Beantwortung dieser Frage liegt in der Anwendung der drei oben genannten Kriterien. Insbesondere die Frage, ob ein möglicher palästinensischer Staat sein Territorium und sein Volk im Sinne effektiver Staatsgewalt beherrscht oder von Israel beherrscht wird, wird von verschiedenen Staaten ganz unterschiedlich beantwortet. Gleiches gilt umso mehr für die Frage, ob diese potenzielle Staatsgewalt das Westjordanland betrifft oder auch den Gazastreifen.
Unproblematisch ist das Kriterium des Staatsvolkes, denn mit dem palästinensischen Volk ist dies recht eindeutig gegeben. Bezüglich des Staatsgebiets wird diskutiert, dass nicht klar genug sei, welche Gebiete zu einem potentiellen Staat Palästina gehören und die Grenzen nicht genau bestimmbar sein, sodass deshalb kein Staatsgebiet vorläge.
Dies kann aber in letzter Instanz nicht überzeugen, denn sowohl eine Fragmentierung des Staatsgebiets als auch einzelne Unklarheiten bezüglich etwaiger Grenzziehungen sind für das Vorhandensein eines Staatsgebiets unbeachtlich. Deshalb dürfte wohl die Frage der effektiven Staatsgewalt das kontroverseste Kriterium sein. Gerade im Gazastreifen bestehen doch erhebliche Zweifel, ob die Staatsgewalt Palästinas "effektiv" genug ist, um eine konstituierende Staatsgewalt im völkerrechtlichen Sinne darzustellen.
Ähnliches gilt auch für Gebiete im Westjordanland, in denen Israel teilweise noch erhebliche Kontrolle ausübt und damit einer effektiven Staatsgewalt Palästinas teilweise im Weg stehen könnte. Wie wir aber gesehen haben, zeigt die Staatenpraxis, dass eine Mehrheit der Staaten die Hoheitsgewalt Palästinas mittlerweile anscheinend als effektiv genug ansieht. Jedenfalls ist ein klarer Trend in der Staatenpraxis der Anerkennung Palästinas nicht von der Hand zu weisen.
Anerkennung wenig überraschend
Palästina wurde nun von Irland, Norwegen und Spanien explizit als Staat anerkannt. Aber bereits vor wenigen Wochen, am 10. Mai, haben 143 von 193 - das sind fast 75 Prozent - der Staaten der UN-Generalversammlung dem palästinensischen Gesuch auf eine vollwertige Mitgliedschaft in der UN zugestimmt, übrigens inklusive Spanien, Irland und Norwegen, deren Wortmeldung heute insofern nicht überraschend kommt.
Somit erkennt eine überwiegende Zahl der Staaten Palästina bereits als eigenen Staat an. Dieser Trend, den wir im globalen Süden schon lange beobachten, hat nun auch Europa erreicht, denn neben Norwegen, Spanien und Irland erkennen zum Beispiel auch Zypern, Schweden und Rumänien Palästina als Staat an. Dabei rekurrieren die meisten Staaten auf das Staatsgebiet in den Grenzen von 1967.
ARD: Was bedeutet eine Anerkennung durch andere Staaten juristisch? Kommt es auf eine solche überhaupt an?
Thielbörger: Die Anerkennung von Staaten ist wie gesagt keine völkerrechtliche Voraussetzung für deren Staatlichkeit. Erforderlich sind Staatsgebiet, Staatsvolk und eine effektive Staatsgewalt. Wenn ein Staat einen anderen anerkennt, ändert sich aber immerhin die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten. Denn die Effektivität zwischenstaatlicher Beziehungen spielt im Völkerrecht eine große Rolle. Mit einer zunehmenden Anerkennung steigt natürlich auch der völkerrechtliche Spielraum des neuen Staates. Er kann nun etwa zu mehreren Staaten diplomatische Beziehungen unterhalten, mit mehreren Staaten Verträge schließen und damit seine Staatlichkeit gewissermaßen unter Beweis stellen. Rechtlich ändert das streng genommen aber für die anderen Staaten zunächst nichts.
ARD: Welche Folgen hat die Anerkennung nun beispielsweise für die Rolle der Palästinensergebiete innerhalb der UN?
Thielbörger: Die Aufnahme von neuen Mitgliedsstaaten ist in der UN-Charta klar geregelt. Nach Art. 4 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen werden neue Mitgliedsstaaten nur aufgenommen, wenn die Generalversammlung einer entsprechenden Empfehlung des Sicherheitsrates folgt. Im Falle von Palästina scheitert dies nicht etwa an der Generalversammlung, dort konnte Palästina jüngst die Mehrheit der Staaten mit 143 Ja Stimmen, 9 Gegenstimmen (inklusive Israel und den USA) und 25 Enthaltungen (darunter Deutschland) - überzeugen, sondern am Sicherheitsrat, wo eine entsprechende Empfehlung regelmäßig am Veto der USA scheitern dürfte. Deswegen hat Palästina momentan nur den Status eines Beobachterstaates und damit weniger Rechte in den Vereinten Nationen. Für die Anerkennung als Beobachterstaats ist die Zustimmung des Sicherheitsrats nämlich entbehrlich.
Vielleicht noch ein Wort zum Internationalen Strafgerichtshof: Der steht zwar außerhalb des Systems der Vereinten Nationen, ist aber eng mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verwoben. Dem Römischen Statut, das den Internationalen Strafgerichtshof vor gut 20 Jahren begründet hat, ist Palästina schon 2015 beigetreten. Im Jahr 2021 hat die Vorverfahrenskammer des Strafgerichtshofs zudem entschieden, dass Palästina eine ordentliche Vertragspartei sei und sich die Zuständigkeit des römischen Statuts auf die Gebiete in Gaza, der Westbank und Ostjerusalem erstrecke. Die Frage nach der Staatlichkeit Palästinas ist damit zwar nicht völkerrechtlich verbindlich entschieden - der Strafgerichtshof hat für sich aber die Frage beantwortet.
ARD: Wenn nun auch einzelne EU-Staaten Palästina anerkennen, kommen dann andere Mitgliedsstaaten auch in Zugzwang?
Thielbörger: Völkerrechtlich haben die übrigen EU-Staaten wie Deutschland natürlich auch bei steigender Anerkennung Palästinas durch andere Staaten keine Pflicht, den Staat Palästina anzuerkennen. Das ist eine souveräne Entscheidung der einzelnen Staaten. Dennoch wird es für sie mit zunehmender Akzeptanz anderer Staaten schwieriger werden, Argumente für die Nichtanerkennung zu finden. Die meisten europäischen Staaten, auch Deutschland, haben sich bislang auf den Standpunkt gestellt, dass die Anerkennung des Staates Palästina ein diplomatisches Mittel sei, das erst am Ende eines Friedensprozesses eingesetzt werde. Hier scheint sich aber ein Wandel abzuzeichnen. Möglicherweise spricht auch einiges dafür, dass der Prozess in Wahrheit mit der Anerkennung beginnen müsste. Der irische Ministerpräsident hat jedenfalls angedeutet, dass in den nächsten Wochen weitere EU-Staaten Palästina anerkennen könnten. Dies könnte nicht zuletzt hinsichtlich der bevorstehenden EU-Parlamentswahl im Juni eine wichtige Frage werden.
ARD: Innerhalb der Vereinten Nationen genießen die palästinensischen Gebiete aktuell Beobachterstatus. Was genau bedeutet das und ändert sich da etwas?
Thielbörger: Palästina hat seit 2012 einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen inne, nachdem es zuvor unter anderem schon Mitglied der UNESCO war. Dieser Status wurde von der UN-Generalversammlung eingerichtet und war historisch bereits für einige Staaten der erste Schritt hin zu einer vollwertigen Mitgliedschaft. Als Beobachterstaat kann Palästina an sämtlichen Sitzungen der UN-Generalversammlung teilnehmen und auch Beobachtermissionen am UN-Hauptsitz unterhalten. Sie dürfen allerdings nicht an Abstimmungen teilnehmen und können zum Beispiel auch nicht in den Sicherheitsrat gewählt werden. Dass sich daran zukünftig etwas ändert, dürfte wohl am Veto der USA im Sicherheitsrat scheitern, denn neue Mitgliedsstaaten werden nur aufgenommen, wenn die Generalversammlung einer entsprechenden Empfehlung des Sicherheitsrates folgt.
Das Gespräch führte die ARD-Rechtsredaktion