UN-Bericht zu Afghanistan Im freien Fall in die Armut
Mehr als die Hälfte der Afghanen sind nach UN-Schätzungen von extremem Hunger bedroht. Bald könnten 97 Prozent der Bevölkerung arm sein. In ihrer Verzweiflung verkaufen Eltern ihre Töchter im Kindesalter.
Hadia sitzt am Straßenrand. Vermummt, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie poliert Schuhe. Ein Kamerateam der Nachrichtenagentur Reuters filmt sie bei ihrer Arbeit. Eine Nahaufnahme zeigt ihre Hände, die recht zart aussehen: keine Risse, ein wenig verdreckt von der Schuhpaste. Hadia war, bevor die Taliban die Macht übernommen haben, Lehrerin. "Dann hat mein Mann seinen Job verloren, auch meine Tochter und mein Sohn. Wir hatten gar kein Geld mehr und nichts mehr zu essen, also bin ich raus und habe angefangen, Schuhe zu putzen", erzählt sie. "Es gibt niemanden mehr bei uns, der richtig Geld verdient. Viele Tage vergehen, an denen wir kaum etwas zu essen haben."
Stifte und Bücher hat Hadia nun gegen Bürsten, Schwämme und Schuhcreme eingetauscht. Viele Lehrerinnen dürfen nicht mehr arbeiten oder sie verdienen kein Geld mit dem Unterrichten. Rund 70 Prozent des Geldes für das Bildungswesen kam vor der Machtübernahme der Taliban aus dem Ausland. Trotzdem hatten auch im letzten Jahr nicht einmal die Hälfte der Mädchen im Land die Grundschule abgeschlossen. Diese Zahl wird in diesem Jahr vermutlich weit sinken.
Allerdings ist das eher eine der kleineren Sorgen, die die Menschen im Land umtreibt: Viele Menschen wissen kaum, wie sie überleben sollen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan, so schätzen die Vereinten Nationen, seien von extremem Hunger bedroht. In den meisten Teilen des Landes ist der Winter eingekehrt.
Unterrichten, das war einmal. Heute muss Hadia Ahmadi auf den Straßen Kabuls Schuhe putzen, um ihre Familie irgendwie durchzubringen.
"Keine Arbeit, also kann niemand etwas kaufen"
In Bamiyan, in Zentralafghanistan, ist es bitterkalt: Eisige Winde, wochenlang liegen die Temperaturen unter null Grad. Die Winter, sagt Daria, Mutter von fünf Kindern, seien immer hart. Aber dieses Jahr sei es besonders schlimm: "Mein Mann findet keinen Job, er geht jeden Tag zum Markt, manchmal kann er Säcke mit Reis oder Mehl ausliefern, damit verdient er umgerechnet rund 48 Afghani am Tag. Aber es gibt viele Tage, an denen er gar kein Geld mit nach Hause bringt."
48 Afghani - das sind derzeit rund 50 Cent. Noch haben sie vor ihrer Hütte einige Säcke mit Kohle liegen, um zu heizen. Das Geld dafür hatten sie sich geliehen, vor dem Winter. Jetzt, sagt Darias Ehemann Sayed, würde ihnen niemand mehr Geld leihen können:
Seitdem die Taliban an der Macht sind, ist alles anders. Die Preise steigen überall, aber es gibt gar keine Jobs mehr.
In nur kurzer Zeit hat sich die wirtschaftliche Spirale in Afghanistan unaufhaltsam abwärts gedreht. Die Vereinten Nationen warnen davor, dass fast alle Menschen im Land in diesem Jahr noch unter die Armutsgrenze fallen könnten, von 97 Prozent ist die Rede. Ein fliegender Händler, der auf einem Markt in Bamiyan Socken verkauft, fasst die aktuelle Situation so zusammen: "Es ist schlimmer als es jemals war. Es gibt keine Arbeit, also kann auch niemand etwas kaufen, alle haben ihre Jobs verloren." Dicke Socken - damit hatte er eigentlich jeden Winter Geschäfte machen können: In Bamiyan liegt monatelang Schnee. Aber nun bleibt nicht einmal mehr jemand vor seinem Socken-Karren stehen.
Eltern verkaufen ihre Kinder - für 300 Dollar
Vor der Machtübernahme der Taliban sind mehr als 75 Prozent des afghanischen Haushaltes aus dem Ausland finanziert worden. Davon sind viele Gehälter bezahlt worden: Beamtinnen und Beamte in Ministerien und Schulen, Soldaten bei der Armee, Personal in den Krankenhäusern, Juristinnen und Juristen. Seit Mitte August sind sämtliche Währungsfonds eingefroren worden und viele Länder sind zurückhaltend, Afghanistan zu helfen. Kaum jemand möchte in den Verdacht geraten, das Regime der Taliban unterstützen, bislang hat noch kein Land das neue Islamische Emirat anerkannt.
In den sozialen Netzwerken machen immer wieder Videos die Runde, in denen Familien berichten, dass sie aus Not ihre sehr jungen Töchter verkaufen. "Diese Tochter habe bereits verkaufen müssen", sagt Hamid Abudullah in einem Video und legt seine Hand auf die Schultern der kleinen Hoshran. Sie ist sieben Jahre alt. Hoshran nimmt schüchtern den Schal von ihrem Gesicht, ihre Augen sind randvoll mit Tränen gefüllt.
"Ich hatte keine andere Wahl", sagt ihr Vater. "Meine Frau ist krank. Ich brauche Geld für ihre Medizin, ich kann nicht einmal mehr etwas zu essen kaufen für den Rest der Familie. Ich habe noch eine andere Tochter, wenn die jemand nehmen würde, für rund 300 Dollar würde ich sie auch verkaufen, weil ich muss."
Eine von vielen: Auch die zehnjährige Qandi G. (3. von links) wurde von ihrem Vater eigenmächtig verkauft - um die Familie vor dem Hunger zu retten, sagt er.
"Es wird mit jedem Tag schlechter"
Arrangierte Ehen bei jungen Mädchen sind nicht ungewöhnlich in einigen Regionen des Landes. Aber in der Regel sind die Mädchen noch bis zu ihrem 15. Lebensjahr bei ihren Eltern geblieben. Nun versprechen Väter wohl immer öfter den zukünftigen Ehemännern, dass sie die Mädchen schon im Kindesalter zu sich nehmen können.
Ashunta Charles, Direktorin der Organisation World Vision in Afghanistan, appelliert an die Weltgemeinschaft, für das Land mehr Geld zu spenden. "Es wird mit jedem Tag schlechter hier, vor allem die Kinder leiden", warnt sie. "Es bricht mir das Herz zu sehen, dass die Menschen bereit sind, ihre Töchter zu verkaufen, um die anderen Familienmitglieder durchbringen zu können. Wir müssen den Menschen hier im Land dringend helfen."
Kurz vor Weihnachten hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, dass einige Finanzguthaben für Afghanistan wieder zur Verfügung stehen sollen, um das Schlimmste zu verhindern - nämlich, dass Tausende Menschen verhungern.
Das Ziel, so die Vereinten Nationen sei, mehr als 20 Millionen Menschen in diesem Jahr zu unterstützen. Das ist der größte Hilfsplan, den sich die Vereinten Nationen je für ein einzelnes Land vorgenommen haben.