Lernen, versteckt vor den Taliban Die geheime Mädchenschule von Kabul
Die Taliban haben Mädchen in Afghanistan weitgehend vom Schulunterricht ausgeschlossen. Bei Kabul unterrichtet eine Frau heimlich Mädchen aus der Nachbarschaft - begleitet von Hoffnung und Angst.
Irgendwo außerhalb, im Westen von Kabul, um Viertel vor sechs Uhr am Morgen beschreibt Nazanin via Telefon noch den Weg durch die letzten staubigen Gassen hindurch. Rechts und links meterhohe Mauern, an einer springt plötzlich ein Tor auf.
Dahinter verbirgt sich ein schattiger Hinterhof mit einer erhöhten Terrasse, um die eine blickdichte Zeltplane gespannt ist - Nazanins kleine geheime Schule. "Unterricht zu geben ist sehr gefährlich - für mich, aber auch für meine Schülerinnen. Natürlich auch für meine Familie, deswegen hatte ich am Anfang auch ziemlich große Angst", sagt sie. "Wir sind sehr vorsichtig. Aber wir wissen nicht, was noch auf uns zukommen kann. Aber selbst wenn es gefährlich ist, können wir unsere Träume nicht einfach aufgeben."
Unterricht an fünf Tagen in der Woche
Nach und nach trudeln die jungen Träumerinnen ein. Vor der Zeltplane schlüpfen sie aus ihren Schuhen und treten in ihr heimliches Klassenzimmer: "Ich habe schon Angst vor den Taliban, wenn ich herkomme", sagt Zainab. "Aber wenn ich hier im Klassenraum bin, dann bin ich so glücklich." Eigentlich wäre Zainab nun in der siebten Klasse. Nazanin unterrichtet Mädchen von 13 bis 16 Jahren, jeden Wochentag ab sechs Uhr morgens.
Heute schreiben die Mädchen einen Chemietest, es ist mucksmäuschenstill im Raum. Die Mädchen hocken weit auseinander verteilt auf dem Teppichboden, damit keine abschreiben kann. Dann ziehen sie Linien mit Buchdeckeln auf ihre Zettel und legen los.
Kathera ist als erste fertig, sie wäre nun auch schon in der achten Klasse. "Die Taliban haben jahrelang in den Bergen gelebt. Es ist deprimierend zu sehen, wie sie mit den Leuten hier umgehen, vor allem mit den Mädchen", sagt Kathera. "Sie haben ein völlig patriarchales Weltbild. Nicht nur uns lassen sie ja nicht mehr zur Schule, sondern auch ihre eigenen Mädchen nicht."
Taliban wollen "islamische Umgebung"
Die Taliban sagen, sie müssten eine "islamische Umgebung" schaffen, bevor die Schulen wieder öffnen könnten. Mädchen dürften weder von Lehrern unterrichtet werden noch mit Jungen in einer Klasse sein. Dabei haben die meisten Kinder in Afghanistan auch schon zuvor nach Geschlechtern getrennt gelernt.
Im März, zum neuen afghanischen Schuljahr, hatten die Taliban angekündigt, dass Mädchen eigentlich wieder zur Schule gehen dürften. Tausende hatten sich am Morgen fertig gemacht, die Rucksäcke gepackt, die Uniformen angezogen. Doch in letzter Minute ruderten die Taliban zurück, die Mädchen mussten wieder nach Hause gehen. Unzählige Träume und Hoffnungen waren zerplatzt.
Das war der Moment, in dem Nazanin sich dazu entschloss, etwas zu unternehmen: "Wenn ich die Mädchen hier schreiben sehe und sie dabei so glücklich aussehen: Das gibt mir so viel Hoffnung, dass auch sie eine Zukunft haben werden. Und das hilft mir, weiter zu machen. Die Energie dieser Mädchen überträgt sich irgendwie auch auf mich selbst."
Neben der Tafel der geheimen Schule hängt ein Bild mit der Aufschrift "Hoffe, träume und glaube."
Noch wollen die Lehrerin Nazanin und ihre jungen Nachbarinnen nicht aufgeben. Die Mädchen erzählen von ihren Berufswünschen: Pilotin, Staatsanwältin, Reporterin. Alles Berufe, die sie unter dem Talibanregime derzeit nicht ausüben können. Aber jedes Mal, wenn die Mädchen zur Tafel schauen, sehen sie gleich daneben ein Bild, das Nazanin dort aufgehängt hat, auf dem geschrieben steht: "Hoffe, träume und glaube."