Russland und Afghanistan Ein Vakuum mit Risiken
Der Abzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan eröffnet Russland neue Möglichkeiten. Doch die Vielzahl der Akteure und Interessen in der Region macht die Lage auch für Russland kompliziert.
Bis zum 11. September wollen die USA und ihre Verbündeten ihre Streitkräfte aus Afghanistan abziehen. Der Rückzug nach 20 Jahren Präsenz hat längst begonnen: Miltärbasen werden zurückgebaut, Material ausgeflogen, zerstört oder an die afghanischen Streitkräfte übergeben.
Vor 32 Jahren war es die Sowjetunion, die ihre Truppen aus Afghanistan abzog. Wie 1989 entsteht heute ein Vakuum, das nationale und internationale Akteure nutzen wollen.
Widerstreitende Interessen
Damals hielt die Zentralregierung in Kabul noch knapp drei Jahre, bevor 1992 der Bürgerkrieg ausbrach und die Taliban schließlich Stück für Stück das Land einnahmen. Heute gibt es Zweifel, ob die Führung um Präsident Aschraf Ghani auch nur einige Monate durchhalten wird. Zwar betont die US-Regierung, die afghanischen Sicherheitskräfte seien gut ausgebildet. Doch vor den Offensiven der Taliban mussten sie in den vergangenen Tagen vielerorts zurückweichen.
In dieser Lage gibt es für die Taliban wenig Anreiz, sich bei den seit langem andauernden Verhandlungen mit der Regierung auf Kompromisse einzulassen. Sollten sie an die Macht gelangen, könnten sie sich allerdings mangels eines gemeinsamen Gegners die Macht gegenseitig streitig machen, auch in Konkurrenz mit weiteren extremistische Gruppierungen wie einem Ableger des "Islamischen Staates" und mit Provinzfürsten.
Zusätzlich kompliziert wird die Lage dadurch, dass die Nachbarstaaten Pakistan, Indien und Iran widersprüchliche Interessen in Afghanistan verfolgen. China wiederum will verhindern, dass die muslimischen Uiguren Afghanistan als Rückzugsort nutzen. Zudem besitzt die Volksrepublik millionenschwere Bergbaukonzessionen im Land.
Diese komplexe Lage ist der russischen Führung seit Jahrzehnten vertraut. Sie betrachtet Afghanistan als erweiterte Interessenssphäre. Wie in anderen Regionen geht es ihr darum, Konflikte für Einflussnahme zu nutzen, ohne dass ein Sicherheitsrisiko für Russland entsteht.
Chaos und ein Erstarken extremistischer Kräfte in Afghanistan können sich aber auf die nördlichen Nachbarn Tadschikistan und Usbekistan auswirken, die mit Russland verbunden sind - und das könnte auch nach Russland ausstrahlen. Zehntausende Wanderarbeiter aus Zentralasien arbeiten in Russland. Nach Anschlägen in den vergangenen Jahren behandelten Sicherheitskräfte sie oft pauschal wie potenzielle Dschihadisten.
Stärkung der Taliban
Russland engagiert sich seit Jahren diplomatisch in Afghanistan, arbeitet dabei allerdings auch mit den Taliban - zum Ärger der Zentralregierung in Kabul. Bereits Ende 2015 erklärte der russische Sonderbeauftragte Samir Kabulow, man habe Kommunikationskanäle zu den Taliban eingerichtet. Zur Begründung sagte er, es gebe ein gemeinsames Interesse, den "Islamischen Staat" zu bekämpfen.
Eine eigene Friedenskonferenz
Im März 2021 veranstaltete die russische Regierung eine von mehreren geplanten Friedenskonferenzen in Moskau, bei der die Taliban mit am Tisch saßen. Einige Wochen zuvor hatte die russische Führung hochrangige Taliban-Vertreter allein eingeladen.
Der russische Journalist Kirill Krivoscheew vom "Kommersant" erklärt das Vorgehen so: Moskau sei an einer Balance zwischen den Kräften in Afghanistan interessiert. Die Zentralregierung werde als schwach und abhängig von den USA angesehen - in der Tat wollen die USA Kabul in begrenztem Maße weiter auch militärisch unterstützen. Davon unabhängig wolle die russische Regierung Verbindungen zu den lokalen Führern in den Provinzen Afghanistans halten, vor allem die im Norden des Landes, die an Usbekistan und Tadschikistan grenzen.
Unsichere Partner
Wenn die sowjetischen Truppen auch 1989 aus Afghanistan abzogen, so blieb ein Teil nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Region präsent: Unter russischem Oberbefehl ist die 201. Motorschützendivision bis heute an der afghanisch-tadschikischen Grenze stationiert und kooperiert mit den Truppen Tadschikistans. Mit Blick auf die Lage in Afghanistan sagte Präsident Wladimir Putin seinem Amtskollegen Emomalij Rahmon vor wenigen Tagen einen weiteren Ausbau der militärischen Zusammenarbeit zu.
Doch verlässt sich Rahmon nicht allein auf Russland. Auch mit China unterhält Tadschikistan eine militärische Partnerschaft basierend auf einem Sicherheitsabkommen. Und die USA suchen laut einem Bericht des "Wall Street Journal" nach neuen Orten für Militärbasen in der Region. Vor wenigen Tagen bereiste der US-Sonderbeauftragte Zalmay Khalilzad Tadschikistan und Usbekistan.
Zwar bleibt Russland mit dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten die Genugtuung, dass auch sie in Afghanistan gescheitert sind. Doch zeichnet sich ab, dass Russland nun kein leichtes Spiel mit den Akteuren in der Region haben wird.