Das Gebäude des US-Kongresses in Abendstimmung
Interview

US-Midterms Gefährliche Spirale der Radikalisierung

Stand: 07.11.2022 08:16 Uhr

Die Zwischenwahlen in den USA werden eine Bewährungsprobe, sagt Transatlantik-Koordinator Link. Die Radikalisierung bei Republikanern und Demokraten besorgt ihn. Anstehende Gerichtsurteile könnten an den Grundfesten der Demokratie rütteln.

tagesschau.de: Sie haben kürzlich als Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung Georgia und Texas besucht. Warum diese beiden US-Bundesstaaten?

Michael Link: Mir ging es darum, unbelastete Kontakte zu Republikanern aufzubauen. Georgia und Texas stehen nicht klassisch im Trump-Lager. In Georgia wagten es viele, auch prominente Republikaner, Trump zu widersprechen. In Texas widersprechen sie zwar nicht offen, haben aber ihre eigene Sicht und mit Ted Cruz einen Konkurrenten, der selber gerne kandidieren würde.

Ein weiterer Aspekt war das Wahlrecht, worüber es in beiden Staaten ja unglaublich viele Debatten gibt. Deshalb war es sehr spannend, mich auch vor dem Hintergrund meiner früheren Tätigkeit als Leiter der OSZE-Wahlbeobachtungsmission bei den US-Wahlen 2020 mit der Lage jetzt und Wahlrechtsänderungen zu befassen.

Michael Link
Zur Person
Michael Link ist seit März 2022 "Koordinator für die transatlantische zwischengesellschaftliche, kultur- und informationspolitische Zusammenarbeit". Der FDP-Bundestagsabgeordnete war bereits 2012 bis 2013 als Staatsminister im Auswärtigen Amt zuständig für die Beziehungen zu den USA und Kanada. Die US-Wahlen 2020 verfolgte er für die OSZE als Chefbeobachter vor Ort. Von 2014 bis 2017 war er Direktor der OSZE-Unterorganisation ODIHR, die für Wahlbeobachtung und Menschenrechte zuständig ist.

tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Wahlrechtsänderungen in Texas und Georgia ein, wo zum Beispiel um die Einschränkung der Stimmabgabe besonders für die schwarze Bevölkerungsgruppe gerungen wird?

Link: Man muss sich die Regeln genau anschauen, die sind von Staat zu Staat unterschiedlich. Einige sind problematisch, viele recht harmlos. Problematisch wird es, wenn die vorgezogene Stimmabgabe erschwert wird, vor allem da in den USA dienstags gewählt wird und Arbeitnehmer aus sozial schwächeren Schichten und mit Arbeitszeiten bis zu zwölf Stunden am Tag nicht frei bekommen. Die sind schlicht darauf angewiesen, vorher wählen zu gehen. Das ist in Texas massiv reduziert worden.

Für nicht problematisch halte ich es, dass ein Personalausweis vorgezeigt werden muss oder eine andere Identifizierung auch bei der Briefwahl erfolgt - und es nicht mehr genügt, eine Unterschrift vorzulegen. Die hätte man in der Tat fälschen können. Einen relevanten Einfluss hätte es allerdings nur bei massenhaften Fälschungen geben können. Solche Vorwürfe zur Wahl 2020 wurden überprüft und keine Belege gefunden.

Das Wahlrecht als Grundrecht darf niemals kompliziert sein. Aber es ist nicht alles schlecht, was die Republikaner einführen. Erste empirische Studien weisen darauf hin, dass Regeln zur Vorlage von Ausweisen nicht zu weniger Stimmabgaben führen.

Vorwahlen fördern Radikalisierung

tagesschau.de: Liegt es nicht auch daran, dass Initiativen und Aktivisten zur Stimmabgabe mobilisieren?

Link: Die Mobilisierung findet sicherlich auf beiden Seiten sehr stark statt, ähnlich wie bei den Wahlen 2020. Nur muss man leider festhalten, dass die Zahl der Staaten, bei denen vorher schon die Ergebnisse klar sind, noch mal zugenommen hat. Wir reden über sehr wenige Sitze, die zwischen Republikanern und Demokraten überhaupt noch wacklig sind.

In aller Regel fallen ja die wichtigsten Entscheidungen bei den Vorwahlen der Parteien. Es ist eine bedauerliche Tendenz, dass aufgrund der Abstimmungsverfahren tendenziell die Radikaleren gewählt werden, übrigens auf beiden Seiten. Aber besonders verhängnisvoll ist das auf der republikanischen Seite, wo man sich umso weniger von Trump lösen kann. Sollte es zum Beispiel im Repräsentantenhaus eine knappe Mehrheit für die Republikaner geben und es damit auf jede Stimme ankommen, dann gewinnen die Radikalen weiteren Einfluss.

Dabei sagen viele hinter vorgehaltener Hand auch in Georgia und Texas, eigentlich bräuchten sie mal jemand anderen. Wenn Trump aber antritt, wird sich auch das Establishment nicht gegen ihn stellen. In dieser völlig überhitzten Atmosphäre, in der Trump Nachahmer findet, die ihn auch noch überflügeln wollen, sind wir in einer gefährlichen Spirale. Deshalb schaue ich mit Spannung und mit Sorge auf diese Entwicklung.

Urteile des Obersten Gerichtshofs könnten Demokratie gefährden

tagesschau.de: Hinsichtlich des Gerrymandering, der Festlegung von Wahlkreisen zum eigenen Vorteil, befasst sich ja der Oberste Gerichtshof mit der Frage, ob die Entscheidungen von Abgeordneten in den Bundesstaaten noch von Gerichten und Gouverneuren angefochten werden dürfen. Geht es da nicht um die Grundfesten der Demokratie?

Link: An den Grundfesten würde gerührt, und das ist der spannendste Punkt, wenn der Oberste Gerichtshof weiter so - man muss es vorsichtig formulieren - fast schon parteipolitisch urteilt. Einige Urteile mit etwas Schlagseite hält ein System noch aus.

Aber wenn dieser Fall Moore gegen Harper in North Carolina und der andere Fall Merrill gegen Milligan in Alabama so ausgehen, dass das Wahlrecht in die Hände der Parlamente der Bundesstaaten gelegt wird, wenn weder Richter noch Gouverneure und die Bundesregierung in Washington etwas daran ändern können, dann könnten die Republikaner in ihren Bundesstaaten ihre Mehrheiten zementieren, sodass sie dauerhaft gewählt würden.

Dabei lebt ja Demokratie von Ergebnisoffenheit. Oder mit einem Augenzwinkern gesagt, Demokratie ist, wenn auch die Opposition mal gewinnt. Das Gerrymandering machen die Demokraten auch, aber die besonders drastischen Fälle liegen bei den Republikanern. Wenn es weiter so genutzt wird, dann sind Wahlgewinne der Opposition strukturell gar nicht mehr möglich.

In Alabama zum Beispiel, wo 25 Prozent der Bevölkerung Schwarze sind, sind die Wahlkreise völlig verrückt zugeschnitten, so dass diese 25 Prozent fast nur noch auf einen Wahlkreis konzentriert sind. Wenn das in den beiden Fällen vom Obersten Gericht gekippt wird, dann haben wir ein echtes Problem.

Ich will nicht das Ende der Demokratie in den USA herbeireden, im Gegenteil, denn der Wahlkampf findet ja statt. Andere Länder wären froh, wenn sie einen so offenen Wahlkampf hätten. Aber das macht es ja so tragisch, dass einige versuchen, die Wahlen im Vorfeld dadurch zu beeinflussen, dass sie den Zugang zur Stimmabgabe erschweren wollen.

Außenpolitik auf dem Altar des Populismus opfern

tagesschau.de: Es gibt Umfragen, wonach einem erheblichen Teil der Bevölkerung zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung wichtiger als die Demokratie ist.

Link: Ja, da sieht man an zwei beängstigenden Entwicklungen: Aufseiten der Republikaner bis zum Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, der klar sagt, wir können nicht mehr so viel Geld in die Ukraine schaufeln, wir sollten mehr an uns denken. Selbst wenn es nur Wahlkampf ist, ist es beängstigend, weil man bereit ist, außenpolitisch wichtige Dinge auf dem Altar des Populismus zu opfern. Bei den Demokraten gibt es eine ähnlich gefährliche Entwicklung: Der Brief der 30 Abgeordneten, die ebenfalls gesagt haben, wir dürfen nicht mehr so viel Geld da rüberschicken. Wir müssen mehr auf Diplomatie drängen.

Das will ich deutlich sagen: Die sehr radikalen Töne auf der republikanischen Seite haben ja leider auf der linken Seite zur Folge, dass es dort nicht rationaler wird. Das ist nicht unbedingt Bernie Sanders. Aber das sind Leute in seinem Umfeld oder auch manchmal teils äußerst linke Abgeordnete im Repräsentantenhaus, die es wiederum den Demokraten im Süden der USA sehr schwer machen.

Für mich war sehr spannend, wie viele Demokraten in Georgia und Texas sich über ihre teilweise sehr, sehr linken Parteikollegen aus dem Norden beklagen. Die wissen ganz genau, die Wahlen in den Swing States, wo die Wahlkreise noch offen sind, gewinnt man in der Mitte und nicht mit den Radikalen.

Aufwachen auf beiden Seiten nötig

tagesschau.de: Es gab die Attacke auf den Ehemann der Demokratin Nancy Pelosi. Konfliktforscher sehen in der hohen Bereitschaft zu politischer Gewalt ein Kriterium für die Gefahr eines Bürgerkrieges.

Link: Es ist extrem bedenklich, weil Hemmschwellen zu fallen drohen. Wenn wir aber genau hinsehen, dann fiel die Hemmschwelle am 6. Januar 2021. Es kamen Menschen zu Tode, Hunderte wurden verletzt. Es bestand die Gefahr, dass Abgeordnete in ihrem eigenen Parlament verletzt, geschlagen, manche sagen gelyncht worden wären.

Jetzt geht es um das Aufwachen auf beiden Seiten, vor allem aber aufseiten der radikalen Trump-Anhänger. Es geht darum zu sagen: Es gibt eine Grenze. Ein Amerikaner ist ein Amerikaner, egal, was er oder sie denkt. Wenn das Trennende das Gemeinsame überlagert, ist das für eine Gesellschaft ein Riesenproblem.

Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber ich bin ja nicht der Einzige, der eine extreme Spaltung in der Gesellschaft sieht, weniger nach Rassen - Weiße, Schwarze oder Hispanics. Racial divide, wie die Amerikaner immer noch sagen. Auch nicht nach arm und reich, vielleicht noch ein bisschen regional.

Aber es ist in jedem Fall eine ganz tiefe weltanschauliche Spaltung, die quer durch alle Familien geht. Es ist besonders gefährlich, weil es nicht so klar zu benennen ist. Wenn man zwar noch miteinander redet, aber sich schon mehr oder weniger wortlos begegnet, wie es Ingo Zamperoni in seiner tollen, beeindruckenden Dokumentation an seiner eigenen Familie zeigt. Solche Geschichten habe ich auch erlebt, auch im eigenen Freundeskreis. Das ist ein echtes Alarmzeichen und macht große Sorgen.

Deshalb hängt viel davon ab, dass die Wahlergebnisse vom 8. November akzeptiert werden. Da steht eine echte Bewährungsprobe bevor, und zwar ganz besonders für die republikanische Seite: Ob sie es schafft, wenn die Ergebnisse nicht in ihrem Sinne sind, den nötigen Charakter zu zeigen, eine Wiederholung des 6. Januar, wenn auch auf kleinerer Ebene, nicht zuzulassen.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. November 2022 um 06:50 Uhr.