Ende von "Title 42" Hoffen und Bangen in Mexiko
Zehntausende Migrantinnen und Migranten haben sich auf der mexikanischen Seite des Zauns versammelt. Sie geben die Hoffnung nicht auf, in den USA Asyl zu bekommen. Anne Demmer hat mit einigen von ihnen gesprochen.
Rodrigo beugt sich über sein Handy - nur rund 20 Meter von den rostbraunen metallenen Stellen des Grenzzauns entfernt, seine Zukunft in den USA scheint zum Greifen nah. Er hat eine App geöffnet, mit der er theoretisch einen Termin bei den US-amerikanischen Behörden bekommen soll, um seinen Asylantrag zu stellen. CBP One nennt sie sich.
Es gebe einiges auszufüllen und auch ein Foto müsse hinzugefügt werden, aber damit gebe es immer Probleme. Oder die Seite sei einfach überfordert, es gebe zu viel Andrang, ärgert sich Rodrigo.
Migrationszentren in Guatemala und Kolumbien
Seit Wochen versucht er, das Online-Formular auszufüllen. Den Prozess konnte er nie beenden. Hört man sich um, erzählen die meisten Migrantinnen und Migranten, dass sie keinen Termin bekommen, weil die Seite auf einmal grau wird, hängen bleibt.
In Zukunft soll das die einzige Möglichkeit sein, um Asyl zu beantragen und den Andrang an der Grenze zu verhindern. In Guatemala und Kolumbien sollen außerdem Migrationszentren eingerichtet werden, damit die Menschen von dort Einreiseanträge stellen.
Vor einem halben Jahr hat Rodrigo Venezuela verlassen, wegen der Gewalt, der Armut, der mangelnden Perspektiven. Seine Frau und seine drei Kinder sind zurückgeblieben. Er lebt von einem Tag auf den anderen, einen festen Schlafplatz hat er nicht, was sich halt so ergibt, meistens unter freiem Himmel, erzählt er. Er ist mit einer Gruppe von 14 weiteren Migrantinnen und Migranten aus Venezuela, Kolumbien und Nicaragua unterwegs. Alle haben das gleiche Ziel: die USA.
Verzweifelte Versuche die Grenze zu überqueren
Wenige Stunden bevor der "Title 42" aufgehoben wird, will er sich nun freiwillig an die US-amerikanischen Grenzbeamten ausliefern. Die Regelung hatte seit März 2020 unter Verweis auf die Corona-Pandemie eine sofortige Abweisung von Asylsuchenden an der Grenze ermöglicht.
Gleichzeitig konnten die Migranten allerdings davon ausgehen, dass sie nicht sofort in ihre Heimat abgeschoben werden, sondern nach Mexiko, von wo aus sie erneut ihr Glück versuchen konnten. Auch Rodrigo. "Vor 15 Tagen haben wir es schon einmal versucht und wurden dann in die Grenzstadt Nogales abgeschoben. Mal sehen, ob es heute klappt." Es hieße, dass sie Leute durchlassen.
Schlupflöcher im Stacheldraht
Auf einmal kommt Bewegung in die kleine Gruppe. Zwei Busse seien gekommen, ruft ein Mann aufgeregt. Sie sollten sich beeilen, treibt eine junge Frau die Gruppe an. Das seien die Busse der US-Grenzschutzbehörden, erklärt Fabiana. Sie würden die Migrantinnen und Migranten mitnehmen. Auch sie selbst, so Gott wolle.
Dann läuft Fabiana los, schlüpft durch ein Loch im Stacheldraht, der die USA von Mexiko trennt, eine weitere Barrikade vor dem eigentlichen Grenzzaun. Ihre Hoffnung teilen viele der hier anwesenden Migrantinnen und Migranten, nur wenige Stunden vor der Aufhebung des "Title 42".
Etwa 500 Menschen haben eine lange Schlange gebildet, warten in der Hitze der Mittagssonne, ungeschützt, ohne Schatten - sie haben sich den US-Grenzschutzbeamten freiwillig ausgeliefert. Die meisten haben sich Tücher um den Kopf gewickelt. Kinder spielen Fangen rund um zwei Plastikklos, die für alle reichen müssen.
Viele Gerüchte und Desinformation
Von den angekündigten Bussen ist weit und breit nichts zu sehen. Gerüchte kursieren in diesen Tagen viele, die Desinformation ist enorm. Vor allem Erfolgsgeschichten von einzelnen Migrantinnen und Migranten, die es geschafft haben sollen - nach Chicago, Dallas oder New York.
Doch kaum einer weiß tatsächlich, wie das genaue Prozedere ist, welche Regeln es gibt, was sie erwartet. Von den etwa 500 Wartenden sollen am Ende des Tages etwa 30 Menschen, vor allem Familien, durchgelassen worden sein, wie es später heißt. Möglicherweise konnten sie ihren Asylantrag stellen.
Mit der Aufhebung des "Title 42" wird vieles anders werden. Die US-Regierung von Präsident Joe Biden hat bereits angekündigt, dass sie härter durchgreifen wird. Die US-Behörden werden nun wieder die Einwanderungsgesetze des Landes gemäß "Title 8" durchsetzen. Bei illegalen Grenzübertritten können Migranten für fünf Jahre von einer legalen Einreise ausgeschlossen werden und sogar ins Gefängnis kommen.
"Jetzt sind wir dem Ziel so nahe"
Davon will Yulisbeth nichts wissen. Sie und ihr Freund haben im Zentrum von Ciudad Juárez auf dem Bürgersteig ihr Zelt aufgeschlagen. Auch sie kommt aus Venezuela. Sie hätten viel durchgemacht und vielen Gefahren ausgesetzt, seien krank gewesen: "Den Darién Dschungel in Kolumbien haben wir überlebt. Das war so grausam, dort haben wir Leichen gesehen, Kinder, Frauen, die umgebracht wurden, andere, die von wilden Tieren angefallen wurden. Und jetzt sind wir unserem Ziel eigentlich so nah. Wir sind so aufgeregt und kommen trotzdem nicht in die USA rein."
Die 21-jährige will es auf jeden Fall legal versuchen. Doch einen Termin bekommt sie über die App CBP One schon seit Wochen nicht.