Mexiko Wählen nach einem blutigen Wahlkampf
Zum ersten Mal könnten die Mexikaner eine Frau zur Präsidentin wählen. In den Umfragen lagen zwei Kandidatinnen vorne - nach einem Wahlkampf, der von Gewalt geprägt war. Denn die organisierte Kriminalität drängt in die Politik.
"Ich möchte, dass Ihr, die Frauen, diese Botschaft in Eurem Herzen tragt: Wenn eine Frau Präsidentin wird, gewinnt nicht nur eine, sondern wir gewinnen alle", ruft die Spitzenkandidatin Claudia Sheinbaum ihren Anhängerinnen bei einer Wahlkampfveranstaltung zu. Sollten die Umfragen recht behalten, wird Mexiko aller Voraussicht nach in Zukunft von einer Frau regiert - möglicherweise von Sheinbaum.
Erste Präsidentin mit feministischer Agenda?
Laut Umfragen liegt sie seit Monaten vorne, kurz vor den Wahlen wurden ihr 54 Prozent der Stimmen zugesprochen, gefolgt von Xóchitl Gálvez, die auf rund 36 Prozent kam. Die 61-jährige Ex-Senatorin, Unternehmerin und Computeringenieurin tritt für die rechtskonservativen Partei Acción Nacional an, Teil des wichtigsten Oppositionsbündnisses Frente Amplio por México.
Geformt wurde das Bündnis von drei Parteien, von denen zwei jahrzehntelang die Politik in Mexiko bestimmt haben, bevor sie von der linken Morena-Partei des amtierenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador verdrängt wurden. Schlusslicht im Rennen ums höchste Amt im Staat ist Jorge Álvarez Máynez, 38 Jahre alt, von der noch jungen Partei Movimiento Ciudadano mit Werten um die zehn Prozent.
Ungebremste Gewalt
Sheinbaum gilt als Zögling von AMLO, wie der Präsident kurz genannt wird. Die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt wird oft als farblos, sperrig und unterkühlt beschrieben. Die Physikerin und promovierte Umweltingenieurin verkörpert seine Politik und will dieser auch weiterhin folgen, sollte sie seine Nachfolgerin werden.
Die Herausforderung für Sheinbaum und alle anderen Kandidatinnen sei groß, sagt die Feministin und Dokumentarfilmerin Guadalupe Sánchez Sosa angesichts der Situation, in der sich das Land befindet: "Ich hoffe sehr, dass eine neue Präsidentin mit den Frauen kommuniziert, in den Austausch geht, uns zuhört. Wir müssen dranbleiben und dürfen keine Ruhe geben, auch nicht bei einer Präsidentin. Es ist an der Zeit, dass wir endlich ein sicheres Mexiko für Frauen schaffen."
Machismus prägt den Alltag der Mexikanerinnen. Nach wie vor gibt es elf Feminizide am Tag. Die Aufklärungsrate von Morden an Frauen aufgrund ihres Geschlechts geht gegen Null. 70 Prozent der Frauen über 15 Jahre haben Gewalt erlebt.
Blutiger Wahlkampf
Der Wahlkampf verlief blutig. Mehr als 30 Kandidatinnen und Kandidaten wurden im Vorfeld umgebracht. Auch Gisela Gaytán hat dieses Schicksal erlitten. Kurz zuvor hatte sie auf einer Pressekonferenz erklärt, dass sie Sicherheitskräfte beantragt habe. Auf Bildern sieht sie engagiert, anpackend aus, schwarze lange Haare, offenes Lachen. Die 37-jährige Juristin kandidierte für das Amt der Bürgermeisterin von Celaya im Bundesstaat Guanajuato, einem wichtigen Industriestandort und laut Umfragen hatte sie gute Aussichten.
Die Stadt gehört verschiedenen Statistiken zufolge zu den gewalttätigsten der Welt. In ihrer Kampagne warb die junge Politikerin der linken Morena-Partei für eine neue Sicherheitsstrategie: "Wir, die Menschen von Celaya, fühlen uns als Überlebende. Gemeinsam mit euch möchte ich, dass wir unsere Gegenwart verändern, mit Blick auf die Zukunft, dass wir gemeinsam den Mut finden, uns der Angst zu stellen". Ihr Wahlkampf dauerte genau einen Tag.
Den Auftakt machte sie auf einem lokalen Markt, wenige Stunden später wird sie in einer nahegelegenen Gemeinde, in einem Brennpunktviertel, auf offener Straße von Auftragskillern erschossen. Mittlerweile sind die mutmaßlichen Täter festgenommen worden.
Über das Motiv, darüber was tatsächlich passiert ist, können die Bewohner in Celaya derzeit jedoch nur spekulieren. Auf einem Platz im Zentrum der Stadt sitzt ein junger Mann auf einer Bank. So richtig will er sich nicht darüber in aller Öffentlichkeit auslassen. Er guckt sich um, um sicher zu gehen, dass niemand zuhört. Es sei sehr schwierig darüber zu sprechen. Es könne die Oppositionspartei gewesen sein oder die Kandidatin könnte die Interessen von jemandem bedroht haben. Der 23-Jährige, der seinen Namen nicht nennen will, bricht das Gespräch schnell ab.
Das organisierte Verbrechen setzt Kandidaten durch
Gerade in Wahlkampfzeiten nimmt das organisierte Verbrechen Einfluss auf die Machtverhältnisse. Es gebe mittlerweile 200 kriminelle Gruppierungen, die in Mexiko aktiv seien und ihre Interessen verteidigten, erklärt Falko Ernst von der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. Längst geht es nicht mehr nur um Drogen, das organisierte Verbrechen dominiert das lukrative Geschäft mit Avocados, Limetten, Hühnchen, verdient an Menschenhandel und Migration, erpresst, entführt und treibt vor allem auch Schutzgelder ein.
Und damit nicht genug: "Es geht mittlerweile sehr stark um legale Märkte - inklusive Landwirtschaft, Industrie und globaler Handel. Vor allen Dingen haben die Gruppen auch gemerkt, wenn sie einmal Zugang zum Staat haben, dass man sehr viel Geld aus öffentlichen Aufträgen abschöpfen kann" - etwa in der Bauwirtschaft oder bei Infrastrukturprojekten. Das Portfolio des organisierten Verbrechens habe sich sehr diversifiziert. Und deswegen, sagt Ernst, seien Wahlen auch so wichtig,
Geld der Kartelle fließt in den Wahlkampf
Dutzende Lokalpolitiker im ganzen Land haben ihre Kandidaturen teils wegen akuter Drohungen gegen sie zurückgezogen. Inzwischen fließt viel Geld der Kartelle in die politischen Kampagnen. Sie setzten eigene Kandidaten und Kandidatinnen auf den Wahllisten durch, drohen und erpressen, um ihre Interessen durchzusetzen.
Der scheidende Präsident López Obrador hinterlässt also eine ganze Reihe ungelöster Probleme - die Verstrickung von organisiertem Verbrechen und lokaler Politik, die Armut, die anhaltende Gewalt gegen Frauen, die Straflosigkeit. 95 Prozent der Straftaten bleiben ungesühnt. Versprochen hatten er - und seine männlichen Vorgänger der vergangenen Dekaden - mehr, denn Gewalt war immer ein Thema in den zurückliegenden Wahlkämpfen. Nun richtet sich der Blick auf die führenden Kandidatinnen. Die Herausforderungen, vor denen sie stehen, sind immens.