Verfassungsreferendum in Chile Das zweite Ende der Ära Pinochet?
Chile stimmt heute über die neue Verfassung ab. Sie soll den Wandel vom neoliberalen Wirtschaftsmodell zum Sozialstaat ermöglichen. Gegner machen vor allem im Netz mobil - und sind nicht chancenlos.
Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Volksfest: Eine Big Band samt Saxofonen, Posaunen und Trompeten sorgt für Stimmung, daneben tanzt eine Frauengruppe in Folklore-Kostümen Flamenco. Überall wehen Fahnen aller Couleur, auf denen der Schriftzug "Apruebo" prangt.
Es sind die Befürworter der neuen Verfassung, die für die Annahme (span. "Apruebo") des jüngst ausgearbeiteten Textes auf die Straße gehen - Tausende, die dicht an dicht bei der Abschlusskundgebung im Zentrum von Santiago de Chile stehen.
Lautstark für die neue Verfassung: Die Abschlusskundgebung für die Annahme des Entwurfs hatte Züge eines Volksfestes.
Blick auf kommende Generationen
Rodrigo Venegas hat seine Tochter auf die Schultern genommen, wegen der er an diesem Abend auch hier ist. "Ich will, dass wir alle die gleichen Chancen im Leben haben, sodass meine Tochter studieren kann, ohne sich massiv verschulden zu müssen", sagt er.
Bislang sind in Chile Bereiche wie Bildung, Gesundheit und die Altersvorsorge weitgehend privatwirtschaftlich organisiert. So sieht es die aktuelle Verfassung vor, die noch aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet stammt - und seitdem einige Male geändert wurde.
Für die meisten Chilenen bleibt sie aber das Symbol jener Zeit, in der ein neoliberales Gesellschaftsmodell verankert wurde, das die soziale Verantwortung des Staats auf ein Minimum reduziert. Dagegen gingen 2019 1,5 Millionen Chilenen auf die Straße und forderten mehr soziale Rechte.
Rodrigo Venegas will gleiche Chancen für alle in Chile - und denkt an die Ausbildung seiner Tochter.
Die Ausrichtung: Sozialstaat
Die Massenproteste hatten zur Folge, dass eine verfassungsgebende Versammlung eingesetzt wurde. Sie hat einen Verfassungstext mit 388 Artikeln ausgearbeitet und zur Abstimmung vorgelegt, der Chile fundamental verändern und zu einem Sozialstaat machen würde.
Ein Aspekt ist der Umgang mit Wasser, das sich in Chile weitgehend in Privatbesitz befindet. Dieser Umstand war für Margarita Sangüesa 2019 ein Grund gewesen, an den Massenprotesten teilzunehmen. "Chile ist wohl das einzige Land der Welt, wo Wasserrechte in den Händen weniger Reicher sind", kritisiert die 35-Jährige.
Jetzt ist sie wieder auf der Straße, um für "Apruebo" zu kämpfen, weil im neuen Verfassungsentwurf ein Recht auf Wasser festgeschrieben wurde.
Viele schwammige Artikel
Viele andere Artikel im Verfassungsentwurf sind jedoch umstritten. So wird, ziemlich schwammig, ein "Recht auf Arbeit", ein "Recht auf würdigen Wohnraum" und ein "Recht auf Sport" festgeschrieben. Wie das in der Praxis aussehen soll, ist nicht näher definiert.
Außerdem befürchten viele Chilenen wirtschaftliche Nachteile aufgrund des starken sozialen Charakters der neuen Verfassung. Bislang hatte Chile seit mehr als drei Jahrzehnten ein beachtliches Wirtschaftswachstum hingelegt. Davon haben aber nicht alle im Land gleichermaßen profitiert.
Die Rechte wittert Sozialismus
Deshalb stammen die Befürworter der neuen Verfassung eher aus dem Lager links der politischen Mitte, während Chiles Konservative und Rechte für Stimmen gegen die neue Verfassung werben, welche sie als "sozialistisch" betiteln.
Außerdem stören sie sich an der Formulierung eines "plurinationalen Staats". Dies würde weitgehende Autonomierechte für Chiles Indigene bedeuten - wie im Nachbarstaat Bolivien. Kritiker bezeichnen es als Spaltung der Gesellschaft.
Durch die starke Verankerung von Umweltschutz im Verfassungsentwurf fürchten Unternehmer eine Beschneidung ihrer Freiräume, beispielsweise im Bergbau oder der Zelluloseproduktion. Ohnehin ist die wirtschaftliche Stimmung bereits eingetrübt, weil es seit der Corona-Pandemie zu erheblichen Preissteigerungen für Lebensmittel und Transport gekommen ist, während die Löhne stagnieren.
Kampagne im Netz
Die Gegner der neuen Verfassung sind auf der Straße in der Minderheit. Zu ihrer Abschlusskundgebung kommen nur wenige Hundert Menschen. Im Netz hingegen haben sie eine breite Kampagne losgetreten, zu der offensichtlich auch Fake News gehören.
So wird behauptet, die neue Verfassung würde Abtreibung bis kurz vor der Geburt erlauben oder die chilenische Flagge verbieten.
Die chilenische Antwort auf Fake News ist simpel: Die Regierung fördert die Verbreitung der neuen Verfassung. Mit Erfolg: Der 178 Seiten lange Text wurde zum Bestseller. Überall im Land stehen Menschen Schlange, um noch rechtzeitig ein Exemplar zu ergattern.
Wie die Volksabstimmung ausgehen wird, ist unklar. Aktuelle Umfragen prognostizieren eine knappe Ablehnung. Es wird am Ende wohl darauf ankommen, wie sich die zehn bis 15 Prozent Unentschlossenen entscheiden werden.
Die Anspannung ist spürbar
Bei der Abschlusskundgebung der Befürworter der neuen Verfassung ist vielen auch eine leichte Anspannung anzusehen. Denn sie wissen: Vermutlich wird das Ergebnis knapp ausfallen. Gleichzeitig sehen sie die Abstimmung als historische Chance, Chile zu einem gerechteren Land zu machen und das Erbe der Diktatur abzuschütteln.