Wirtschaftliche Lage in Ägypten "Seit der Revolution ging es stetig bergab"
Die Hoffnung der Ägypter hat sich nicht erfüllt. "Wirtschaft und Tourismus geht es deutlich schlechter als unter Mubarak", sagt die Expertin Prasch im Interview mit tagesschau.de. Der Tourismus sei um 30 Prozent zurückgegangen. Dabei sei die Lage auf dem Sinai oder am Roten Meer weiter unbedenklich.
tageschau.de: Eigentlich sollte die Revolution auch die desaströse wirtschaftliche Lage in Ägypten verbessern. Diese Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt. Wie ist die Lage derzeit?
Nina Prasch: Ägypten geht es wirtschaftlich deutlich schlechter als noch unter Hosni Mubarak. Seit der Revolution ging es damit nur bergab. Die einzige wichtige Einkommensquelle, die einigermaßen konstant geblieben ist, sind die Devisen, die Ägypten durch die Durchfahrt internationaler Handelsschiffe durch den Suezkanal erwirtschaftet. Die meisten anderen Faktoren haben sich verschlechtert: Der Tourismus ist insgesamt um 30 Prozent zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote ist von etwa neun gut zwölf Prozent angestiegen. Das alles ist direkt auf die Revolution zurückzuführen.
tagesschau.de: Wie hat sich der Tourismus in der letzten Zeit entwickelt?
Prasch: Das ging auf und ab. Ende vergangenen Jahres war es wieder ein wenig besser. Aber insgesamt gab es einen sehr starken Einbruch, insbesondere beim sogenannten Kulturtourismus. Also Tourismus, der eben nicht an den Ferienorten am Roten Meer stattfindet, sondern in Kairo oder entlang des Nils, dort wo das Geld direkt an die Bevölkerung geht. Dieser teure Kulturtourismus, der verhältnismäßig viel Geld ins Land gebracht hat, ist streckenweise ganz zum Erliegen gekommen. Und immer, wenn es wieder zu neuen gewaltsamen Ausschreitungen kommt, werden natürlich Reisen abgesagt.
"Auseinandersetzungen an unvorhersehbaren Orten"
tagesschau.de: Wie sicher ist Ägypten im Augenblick für Touristen?
Prasch: Ich würde unterscheiden zwischen der aktuellen Situation seit Ende Januar und dem vergangenen Jahr. 2012 war die Lage noch viel übersichtlicher. Die Auseinandersetzungen waren örtlich begrenzt, man wusste recht genau, wo und wann sie stattfinden und konnte ihnen dadurch leicht aus dem Weg gehen. Wenn man als Tourist nicht direkt in eine Demonstration hinein gelaufen ist, musste man davon gar nichts mitbekommen.
Derzeit ist es in Kairo sehr viel unübersichtlicher. Die Auseinandersetzungen sind eben nicht mehr auf dem Tahrir-Platz und den angrenzenden Straßen konzentriert, sondern finden dezentral und an unvorhersehbaren Orten statt. Brücken werden plötzlich blockiert, ohne Ankündigung oder Aufruf zu einer Demonstration. Das betrifft auch nicht mehr nur Kairo, sondern gerade auch die Kanalstädte und Alexandria.
tagesschau.de: Würden Sie derzeit davon abraten, nach Ägypten zu reisen?
Prasch: Nein, nicht generell. Die Sicherheitslage hat sich zwar insgesamt verschlechtert, aber wenn man eine Reise nach Hurghada oder Scharm al Scheich gebucht hat, ans Rote Meer oder in die Touristengebiete auf den Sinai wird man nach wie vor nichts zu befürchten haben. Selbst in Kairo kann man auch jetzt in den meisten Stadtteilen einen von der politischen Krise relativ unbehelligten Alltag führen.
"12 Liter Wasser für 70 ägyptische Pfund"
tagesschau.de: Wie wirkt sich all das auf die Bevölkerung aus?
Prasch: Es gibt eine Wechselwirkung zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Entwicklung: Die kann man am besten an dem IWF-Kredit sehen, über den gerade verhandelt wird. Diese 4,8 Milliarden Dollar sind an Subventionskürzungen gebunden. In Ägypten werden viele Alltagsgüter stark subventioniert und diese Subventionen müssten schrittweise gekürzt werden, um diesen Kredit zu bekommen. Solche Kürzungen würden sich direkt auf die Bevölkerung auswirken, insbesondere natürlich auf die Armen.
Im vergangenen Jahr wurde beispielsweise in Folge knapper Devisenreserven das importierte und subventionierte Dieselbenzin häufiger knapp. Da kann es sein, dass ein halbes Stadtviertel blockiert wird, wegen der Schlangen an den Tankstellen. Die Taxifahrer können kein Geld mehr verdienen, sich und ihre Familien nicht ernähren. Dies schlägt mit der Zeit natürlich in Unzufriedenheit mit der Regierung um. Ebenso gab es im vergangenen Jahr es eine Kochgasknappheit: Da hat sich der Preis auf dem Schwarzmarkt für eine Gasflasche zum Kochen innerhalb von Tagen verfünffacht. Dasselbe passierte mit Wasser: Ein Pack mit zwölf Litern Wasser, der ursprünglich circa 20 ägyptische Pfund kostete, ging rauf auf 70 Pfund. Das sind Preissprünge, die kein normaler Ägypter verkraften kann, auch nicht die, die über der Armutsgrenze leben.
"Ein Viertel lebt unter dem Existenzminimum"
tagesschau.de: Wovon leben die Menschen denn jetzt?
Prasch: Nach offiziellen Zahlen lebt ein Viertel der Ägypter unter dem Existenzminimum mit weniger als von zwei Dollar pro Tag. Die Familien versuchen sich gegenseitig zu helfen, gerade auf dem Land gibt es Hilfsorganisationen. Viele Leben sozusagen von der Hand in den Mund und hoffen auf eine Besserung der Lage durch die Regierung. Manche gehen auch betteln.
Das ist der Konflikt, dem Mursi jetzt ausgesetzt ist: Er braucht diesen IWF-Kredit, muss also die Subventionen kürzen. Aber das wird die politische Situation für ihn verschärfen. Die Menschen, die sich jetzt gegen ihn wenden, sind ja nicht nur Oppositionelle, sondern auch Menschen, die sich eine wirtschaftliche Verbesserung erhofft haben und jetzt frustriert sind. Aber nur, wenn Ägypten den Kredit bekommt, werden auch andere Investoren und Kreditgeber sich engagieren. Das ist eine vertrackte Situation.
tagesschau.de: Was schreckt die Investoren ab?
Prasch: Für die Wirtschaft zählt, dass es Verlässlichkeit gibt, eine Aussicht auf Stabilität, Rechtssicherheit und dass eine gewisse Wettbewerbsaufsicht funktioniert. All das ist in Ägypten derzeit nicht der Fall. Auch die Infrastruktur muss gewährleistet sein. Die ist in Ägypten zwar gar nicht so schlecht, trotzdem gibt es hier viel zu tun.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de