ARD-Korrespondent Armbruster über Ägyptens Präsident Mursi Gewiefter Stratege oder Laufbursche der Muslimbrüder?
In der ägyptischen Regierung Mursi toben Machtkämpfe - bislang setzten sich stets die "Betonköpfe" durch, sagt ARD-Korrespondent Jörg Armbruster im tagesschau.de-Interview. Viele Entscheidungen würden ohnehin nicht dort, sondern von den Muslimbrüdern gefällt. Mit der PR der Muslimbrüder hat er ganz eigene Erfahrungen gemacht.
tagesschau.de: Ende November gab sich Präsident Mursi Sondervollmachten, die ihn bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung praktisch unangreifbar machen sollten. Dann peitschen die Islamisten im Eilverfahren einen reichlich umstrittenen Verfassungsentwurf durch. Nach massiven Protesten hob Mursi zwar die Sondervollmachten wieder auf, hielt aber am ebenfalls umstrittenen Termin für das Verfassungsreferendum fest. Und jetzt heißt es plötzlich, das Referendum soll auf zwei Samstage aufgesplittet werden. Wie ist das alles zu bewerten?
Jörg Armbruster: Dass das Referendum gesplittet wird, hat einen einfachen Grund: Laut Gesetz müssen alle Wahllokale von Richtern überwacht werden. Davon stehen aber nicht genügend zur Verfügung. Denn ein großer Teil der Richterschaft stellt sich immer noch gegen die Regierung, die ja eigentlich ihr Arbeitgeber ist.
Was den Verzicht auf die Sonderdekrete anbelangt: Mursi hat immer gesagt, er werde auf die Sondervollmachten wieder verzichten, sobald die Verfassung gültig ist. Er hat sie jetzt also nur ein bis zwei Wochen früher aufgegeben, als er dies nach seinem eigenen Versprechen ohnehin hätte tun müssen.
Viel dramatischer ist, dass er nichts am Verfassungsentwurf geändert hat, den liberalen Kräften im Land also kein Gehör geschenkt hat. Nun bekommt Ägypten eine islamistisch geprägte Verfassung, in der Amateur-Religionsinterpretationen Tür und Tor geöffnet wird - und in der die Al-Azhar-Moschee fast über dem Verfassungsgericht steht. (Anm. d. Red.: Die Al-Azhar-Moschee und -Universität sind seit Jahrhunderten die wichtigste Stätte für die Gelehrten des sunnitischen Islam. Nach dem Verfassungsentwurf sollen die Gelehrten direkten Einfluss auf die Gesetzgebung bekommen.)
"Gespalten in einen 'Betonkern' und eine liberale Gruppe"
tagesschau.de: Das Einlenken bei den Sondervollmachten war also nur eine Nebelkerze, um vom eigentlichen Problem, der umstrittenen Verfassung, abzulenken?
Armbruster: Ja - und einige sind ja auch darauf reingefallen und nicht mehr demonstrieren gegangen. Interessant war in diesem Zusammenhang das vergangene Wochenende: Am Freitag hatte Mursis Stellvertreter Mahmud Mekki verkündet, Mursi und die Regierung seien bereit, das Verfassungsreferendum zu verschieben. Am Samstag war davon dann überhaupt nicht mehr die Rede. Da hieß es dann plötzlich, Mursi verzichte auf seine Sondervollmachten.
Dahinter steckt folgendes: Die Regierung ist gespalten in einen "Betonkern" von Muslimbrüdern um Mursi und eine etwas liberalere Gruppe, zu der auch der Vizepräsident Mekki gehört. Meiner Einschätzung nach hat Mursi diese Gruppe bei der Regierungsbildung überhaupt nur angeheuert, um sich ein etwas weltoffeneres, liberaleres Image zu geben. Dieser liberale Kern hat sich aber nicht durchgesetzt.
Ich habe heute mit einem der ehemaligen Berater Mursis gesprochen, der sich in den vergangenen Tagen zurückgezogen hatte. Er erzählte mir, dass es heftige Machtkämpfe zwischen den Liberaleren und diesem "Betonkern" um Mursi gibt. Durchgesetzt haben sich bisher immer die "Betonköpfe".
tagesschau.de: Und wie bewerten Sie all diese Vorgänge insgesamt? Ist das nun eher Chaos oder doch eine geschickte Taktik Mursis, die letztlich aufgegangen ist?
Armbruster: Dass er das Verfassungsreferendum mit diesem Verfassungsentwurf durchgeboxt hat, ist natürlich langfristig geplant gewesen - wobei ich noch nicht mal glaube, dass es von Mursi geplant wurde, sondern von der Führung der Muslimbruderschaft. Die vielen Ungereimtheiten und Widersprüche dabei haben sicherlich etwas mit der geringen politischen Erfahrung Mursis zu tun.
"Mursi ein Laufbursche der Muslimbrüder"
tagesschau.de: Wie groß ist der Einfluss der Muslimbrüder auf die Regierung denn überhaupt?
Armbruster: Ich fürchte, er ist größer, als wir uns das bisher eingestehen wollten. Es gibt sogar Stimmen, die sagen, Mursi ist ein Laufbursche von Chairat al Schater, der grauen Eminenz der Muslimbrüder. Auch Mursis Ex-Berater, mit dem ich gesprochen habe, sagt: Die wesentlichen Entscheidungen werden in der Zentrale der Muslimbruderschaft gefällt und nicht in der Zentrale der Regierung.
tagesschau.de: Mursi-Anhänger argumentieren, der Protest gegen den Verfassungsentwurf werde nur von einer kleinen, lautstarken Elite in den Städten getragen. Auf dem Land sei eine große Mehrheit der Menschen dafür. Ist das so?
Armbruster: Viele Menschen auf dem Land stehen hinter Mursi und der Muslimbruderschaft, aber nicht unbedingt hinter dem Verfassungsentwurf. Ich war in der vergangenen Woche auf dem Land und habe Bauern und Frauen dort gefragt, was sie von der Verfassung wissen. Die Antwort war oft: "Ich hab davon gehört, aber was das ist, weiß ich nicht." Das Problem ist, dass die Hälfte der Menschen auf dem Land Analphabeten sind.
Die Menschen auf dem Land - aber immer mehr auch in der Stadt - wollen Ruhe, Stabilität und etwas zu Essen auf dem Tisch. Denen ist die Verfassung relativ egal. Informationen darüber bekommen sie vor allem von den Muslimbrüdern. Und die werden auch dafür sorgen, dass sie zur Wahl gehen und entsprechend abstimmen.
tagesschau.de: Wird das Verfassungsreferendum Ihrer Einschätzung nach - wie geplant - an den beiden kommenden Samstagen stattfinden? Und wird es durchkommen?
Armbruster: Ich denke, es wird stattfinden. Denn die Muslimbrüder wollen es unbedingt durchziehen. Durch das Splitting auf zwei Termine werden auch genug Richter zur Überwachung zu Verfügung stehen. Und ich gehe auch davon aus, dass es eine Mehrheit für die Verfassung geben wird.
"Sie haben die Punkte rausgegriffen, die ihnen genehm waren"
tagesschau.de: Vor knapp zwei Wochen hatten wir schon einmal ein Interview mit Ihnen geführt. Das wurde auch von der Muslimbruderschaft wahrgenommen - und instrumentalisiert. Was ist da passiert?
Armbruster: Sie haben die Punkte in dem Interview herausgegriffen, die ihnen genehm waren, und die anderen weggelassen. Ich hatte damals sinngemäß gesagt, Mursi hat durchaus Recht mit der Sorge, dass Teile der Richterschaft dem alten System anhängen und versuchen, seine Politik zu lähmen. Den zweiten Teil des Satzes, nämlich dass Mursi den falschen Weg gewählt hat und auf die Opposition hätte zugehen müssen, haben sie weggelassen. Und so stand auf der Internetseite der Muslimbruderschaft mit großem ARD-Logo: "Deutsches Fernsehen stimmt Mursi zu" - was natürlich hinten und vorne nicht stimmt.
Internet und Zeitungen spielen für viele Ägypter – gerade auf dem Land - als Informationsquelle keine große Rolle. Gerichtet war das also vor allem an das Ausland und an die gebildeten Ägypter - und auch an die anderen Medien in Ägypten, die von der Muslimbruderschaft als eher feindselig wahrgenommen werden. Und zumindest von einer ägyptischen Zeitung wurde diese Darstellung der Moslembrüder auch aufgegriffen.
Das Interview führt Holger Schwesinger, tagesschau.de