Anlage zur Gasförderung und Verarbeitung in Novy Urengoi, Sibirien.

Arktis Giftmüll durch tauenden Permafrost?

Stand: 06.04.2023 19:41 Uhr

Diesel, Schwermetalle, Industrieabfälle - in der Arktis lagert viel giftiger Müll, oft einfach auf oder im Permafrostboden. Doch durch die Erderwärmung taut dieser auf. Forscher warnen vor Gefahren für die Natur.

Durch das Tauen von Permafrostböden unter Industrieanlagen in der Arktis steigt Fachleuten zufolge das Risiko großflächiger Umweltschäden erheblich. In den arktischen Regionen seien über Jahrzehnte hinweg giftige Abfälle in Kleindeponien im oder auf dem bislang dauerhaft gefrorenen Erdreich abgelagert worden, erklärte das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven.

"Schutzfolie" löst sich auf

Durch das Auftauen des Permafrosts im Zuge des Klimawandels verschwinde die "Barrierewirkung", heißt es in einer Studie von Wissenschaftlern des Instituts, die in "Nature Communications" veröffentlicht wurde.

Im Interview mit tagesschau.de erklärt Studienautor Moritz Langer: "Das führt dazu, dass diese 'Schutzfolie' sich langsam auflöst und die Schadstoffe in andere Ökosysteme gelangen, wo es dann problematisch wird für Lebewesen und eventuell auch für Menschen." Dies betreffe natürlich die etwa sechs Millionen Menschen, die in der Arktis leben, also etwa indigene Gruppen, direkt. "Langfristig könnten diese Schadstoffe aber auch uns in den mittleren Breiten, also in den westlichen Regionen betreffen, denn ein Teil unserer Nahrung, etwa Fische, stammt aus der Arktis."

Moritz Langer, Permafrostforscher Alfred-Wegener-Institut, über Schadstoffe im Permafrostboden in der Arktis

tagesschau24 16:00 Uhr

Diesel, Schwermetalle, radioaktive Abfälle

Die Bandbreite der Substanzen reicht demnach von Dieselkraftstoff über hochgefährliche Schwermetalle bis hin zu radioaktiven Abfällen. In der Arktis gibt es insgesamt eine große Zahl stillgelegter und aktiver Anlagen zur Öl- und Gasförderung sowie Bergwerke. Zu diesen gehören nach Angaben der AWI-Experten lokale Deponien mit giftigen Schlämmen, Seen voller aufgestauter Industrieabwässer oder Schutthalden aus dem Minenbetrieb.

Auf eine aufwändige Entsorgung sei oftmals in dem Glauben verzichtet worden, der gefrorene Boden schließe die Abfälle dauerhaft ein. "Industrieabfälle aus stillgelegten oder noch arbeitenden Anlagen hat man daher in der Regel einfach vor Ort gelassen, statt sie mit viel Aufwand und entsprechenden Kosten zu beseitigen", erklärte Langer. So seien über Jahrzehnte Kleinstdeponien voller giftiger Rückstände aus der Öl- und Gasförderung entstanden.

Bis zu 20.000 belastete Flächen

Laut der Untersuchung existieren in der Arktis im Umkreis von etwa 4500 Industrieansiedlungen mindestens 13.000 bis 20.000 belastete Flächen, von denen in der Zukunft durch das Tauen des Permafrostbodens ein höheres Risiko ausgehen könnte. Etwa 3500 bis 5200 davon lägen sogar in Regionen, in denen der Schmelzprozess vor Ende des laufenden Jahrhunderts beginnen werde.

Bei den Zahlen handelt es sich allerdings nur um eine grobe Orientierung, da mangels umfassender Daten ein genauerer Überblick fehlt. "Das tatsächliche Problem könnte sogar noch größer sein", erklärt der AWI-Experte.

Da sich die Permafrost-Region zwei- bis viermal so schnell erwärme wie der Rest der Welt, taue der gefrorene Untergrund zunehmend auf. "Es taut schneller und weiträumiger und tiefgreifender, als das lange Zeit vermutet worden ist", so Langer. "Bis ungefähr 2050 können wir davon ausgehen, dass eine sehr große Fläche in der Arktis von dem Auftauen des Permafrosts betroffen sein wird. Und das betrifft sehr viele Orte, wo wir bereits die Kontamination sehen."

Kaum verlässliche Daten aus Russland

Die Forscher fordern langfristige Strategien. Unklar ist laut Studie, die sich auf Hochrechnungen in Computermodellen stützt, insbesondere die Situation in Sibirien, weil in Russland anders als etwa in Kanada und im US-amerikanischen Bundesstaat Alaska keine Datenbanken zu kontaminierten Flächen existieren. Aus Russland gebe es "eher spärliche Informationen", etwa aus Presseberichten.

Verschärft wird die Lage laut AWI künftig durch zunehmende wirtschaftliche Aktivitäten in der sich erwärmenden Arktis. Die Folge davon seien immer mehr Industrieanlagen, aus denen giftige Substanzen austreten könnten, erklärte das Institut. Nicht nur von Deponien gehe dabei eine Gefahr aus. Durch den instabilen Boden könnten auch Schäden an Pipelines, Chemikalien-Lagern und Deponien entstehen. "All die Lagerstätten und Industrieanlagen wurden unter der Voraussetzung errichtet, dass Permafrost stabil ist - doch diese Annahme trifft nicht mehr zu", so Langer. "Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass eventuell noch mehr Kontaminationen entstehen aufgrund Schäden an Infrastrukturen."

Müll wieder wegräumen

Als Konsequenz kann sich Langer vorstellen, dass die Menschen den Müll auch wieder wegräumen. "Das wäre natürlich das Optimale, dass wir den Müll, den wir über sehr lange Zeit in der Arktis hinterlassen haben, auch wieder wegräumen, oder heraustransportieren aus der Arktis. Zumindest an den Standorten, wo wir wissen, dass es Probleme geben wird mit dem Auftauen." Dafür brauche es aber erstmal eine bessere Übersicht darüber, wo in den vergangenen Jahren überhaupt wie viel und was entsorgt worden sei.