Intersexualität im Leistungssport Zu "männlich" für den Frauensport?
Athletinnen und Athleten - Frauen und Männer: Im Sport ist diese Trennung scharf, in der Biologie nicht. Wie wird Intersexualität definiert? Wie geht der Leistungssport damit um? Und wo liegen die Probleme?
Imane Khelif ist Boxerin, beim olympischen Turnier hat sie die Goldmedaille im Weltergewicht gewonnen. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb aktuell weltweit über die Algerierin gesprochen wird. Seit ihre italienische Kontrahentin in der ersten Runde nach nur wenigen Sekunden den Kampf aufgeben musste, wird öffentlich in Frage gestellt, ob Khelif "weiblich" genug sei, um im Frauenturnier antreten zu dürfen. Dabei wird auch viel Desinformation verbreitet.
Dass die geschlechtliche Identität von Profisportlerinnen infrage gestellt wird, ist nicht neu, sagt Dennis Krämer. Der Soziologe forscht an der Universität Münster zu Intersexualität im Leistungssport. Doch in den letzten Jahren sei das Thema präsenter geworden.
"Intersexualität" oder auch "Intergeschlechtlichkeit" bedeutet: Der Körper eines Menschen weist weibliche und männliche Merkmale auf. Zum Beispiel könnte eine Person genetisch einen männlichen Chromosomensatz (XY) tragen, aber trotzdem keine typisch männlichen Genitalien aufweisen. Möglich ist auch, dass jemand eine Kombination aus männlichen und weiblichen Chromosomen hat (XXY) oder der Chromosomensatz nicht in jeder Zelle des Körpers gleich ist, ein sogenanntes Mosaik. Mehr als 80 unterschiedliche Diagnosen würden unter dem Begriff "Intersexualität" zusammengefasst, so Krämer.
Trennung im Sport aus Gründen der Gerechtigkeit
Solche Abweichungen in der menschlichen Entwicklung sind selten, aber sie zeigen: Biologisch gibt es mehr als die zwei offensichtlichen Geschlechter und keine scharfe Trennung. Auch rechtlich ist das in Deutschland mittlerweile anerkannt: Seit 2018 gibt es den offiziellen Geschlechtseintrag "divers", im November 2024 tritt das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, womit jeder Mensch selbst entscheiden kann, welcher Eintrag am besten passt.
"In den meisten Sportdisziplinen wird jedoch davon ausgegangen, dass Männer und Frauen getrennt werden müssen, damit es gerecht bleibt", erklärt der Soziologe Krämer. "Im Zentrum stehen dabei elementare Prinzipien des Leistungssports wie Chancengleichheit und Fairplay."
Testosteron-Kontrolle statt Blick in die Unterhose
Die Grenze zwischen den beiden Kategorien Athleten und Athletinnen wird im modernen Sport über medizinische Grenzwerte gezogen: Heute schaue man hierzu vor allem auf den Testosteron-Wert, so der Soziologe von der Universität Münster. "Früher, ab dem Jahr 1967, hat der Weltsportverband der Leichtathletik den Zugang zur Frauenkategorie noch über Chromosomentests reguliert", so Krämer. "Und davor wurde der Zugang zur Frauenkategorie durch Überprüfungen der Geschlechtsteile geregelt."
Diese Kriterien seien alle sehr zum Nachteil von intersexuellen Personen gewesen. "Menschen, die chromosomale Variationen wie XXY oder X0/XY-Mosaiken aufweisen, würden hier gar nicht mitgedacht werden."
Ein Blick in die Unterhose der Sportlerinnen wie noch in den 1960er-Jahren - das gibt es nicht mehr. In der Leichtathletik beispielsweise gilt heute die Regel, dass intersexuelle Menschen einen Testosteron-Wert von maximal 2,5 Nanomol pro Liter im Blut aufweisen dürfen, um bei den Frauen-Wettbewerben mitmachen zu dürfen. Wenn sie diesen überschreiten, müssten sie ihr Testosteronlevel medikamentös senken.
Testosteronwerte bei Frauen variieren
Testosteron gilt als "männliches" Geschlechtshormon - auch wenn das Hormon bei Frauen ebenfalls eine wichtige Rolle spiele, sagt Julia Szendrödi. Sie ist ärztliche Direktorin der Klinik für Endokrinologie an der Uniklinik Heidelberg. Es gebe deutliche Unterschiede im Hormonhaushalt, allerdings auch zwischen Menschen des gleichen Geschlechts. "Bei Frauen hat man einen Referenzbereich, was normale Testosteronwerte anbelangt zwischen 0,4 und 2,5 Nanomol pro Liter", erklärt Szendrödi. Das sei aber insgesamt ungefähr 17-fach niedriger als bei Männern.
Doch auch bei biologischen Frauen, bei denen keine Intersexualität vorliegt, könne es unterschiedliche Ursachen für einen erhöhten Testosteron-Spiegel geben, so die Wissenschaftlerin vom Uniklinikum Heidelberg. Ein Beispiel: Das Polycystische Ovarial-Syndrom - eine Hormonstörung bei Frauen, die sich meist im jungen Erwachsenenalter zeigt. Betroffene zeigten oft auch andere Anzeichen einer "Vermännlichung" wie eine verstärkte Körperbehaarung, so Szendrödi. Auch eine Unfruchtbarkeit könne die Folge sein.
Testosteron hilft beim Muskelaufbau
Neben der Geschlechtsentwicklung hat Testosteron auch einen Effekt auf den Stoffwechsel und damit auf die Entwicklung der Muskulatur. Das heißt: Die Muskeln von Menschen mit einem höheren Testosteronwert reagierten meist besser auf ein gezieltes Training, erklärt Patrick Diel, Professor für molekulare Sportmedizin an der Sporthochschule Köln. "Sie können mehr Muskelmasse aufbauen. Wenn das in einem vernünftigen Trainingszusammenhang geschieht, dann kann das auch darin resultieren, dass diese Personen eben schneller und stärker sind als andere." Nicht umsonst würde Testosteron trotz teils erheblicher Nebenwirkungen als Dopingmittel verwendet.
Aber bedeutet viel Testosteron automatisch eine bessere Leistung? So einfach ist es dann auch wieder nicht. Es komme auf weitere Faktoren an, so Diel - zum Beispiel, wie das Gewebe auf Testosteron reagiere. Auch Frauen mit einem erhöhten Testosteronspiegel seien nicht automatisch leistungsstärker, erklärt Julia Szendrödi von der Uniklinik Heidelberg. Das hänge immer auch von der körperlichen Ursache dieser hormonellen Besonderheit ab.
Der leistungssteigernde Effekt von Testosteron wirke sich auch nicht bei allen Sportarten gleich aus, erklärt der Sportmediziner Diel: "In allen Sportarten, wo es um Schnelligkeit und Kraft geht, ist es von großem Vorteil." Beispiele wären Sprint-Disziplinen oder Weitsprung. "Wir reden da aber auch über Kampfsportarten wie Boxen oder über Gewichtheben", so Diel.
Wissenschaftliche Grundlage ist dünn
Bei technischen Disziplinen sei die Wirkung weniger relevant, genauso bei Teamsportarten. Allerdings sei es schwierig in Studien sauber nachzuweisen, wie groß der Leistungsvorteil durch einen erhöhten Testosteronwert bei welcher Disziplin genau sei, so Diel.
Wo ziehe man die Grenze und erlaube Athletinnen den Start nur mit gesenktem Hormonspiegel? Bei Mittelstrecken bis 1500 Meter oder eher bei 10.000 Meter-Läufen? Oder erst beim Marathon? "Wenn man da die wissenschaftliche Literatur durchschaut, findet man nichts, was diese Linie klar zieht. Alles, was man aktuell hat, sind Vermutungen auf Basis von Erfahrungen oder physiologischen Erkenntnissen", sagt der Sportwissenschaftler. Das Olympische Komitee habe es darum den einzelnen Sportverbänden überlassen, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen intergeschlechtliche Menschen antreten dürfen.
Keine Kritik an anderen körperlichen Besonderheiten
Für den Soziologen Krämer ist ein weiterer Punkt interessant: Bei anderen Sportlerinnen und Sportlern würden körperliche Besonderheiten von der Öffentlichkeit nicht kritisiert sondern gefeiert. Ein Beispiel: Die Turnerin Simone Biles.
"Sie ist aktuell auch sehr erfolgreich in Paris - sie ist 1,42 Meter groß und außergewöhnlich leistungsstark im Turnen", so Krämer. "Oder Shaquille O'Neal, der ist 2,16 Meter groß und war ein sehr dominanter, starker Spieler in der US-amerikanischen Basketballliga NBA. Das sind beides besondere Menschen mit besonderen Körpern, die zu besonderen Leistungen im Sport befähigen."
Auf die intersexuelle Leichtathletin Caster Semanya aus Südafrika würde hingegen ganz anders geschaut, so Krämer: "Sie hat wahrscheinlich auch einen Körper, der sie zu besonderen Leistungen befähigt. Dieser Körper ist aber nicht überdurchschnittlich klein oder groß oder schwer oder stark - er produziert, soweit wir wissen, mehr Testosteron. Wobei man sagen muss: Wie groß der Effekt des Hormons auf ihre Leistung wirklich ist, ist wissenschaftlich nicht geklärt."
Nach den aktuellen Regeln des Weltleichtathletik-Verbands darf Semanya an internationalen Wettbewerben nicht antreten, solange sie ihren Testosteronwert nicht künstlich senkt, was sie ablehnt.
Öffentlicher Zweifel an Weiblichkeit diskriminierend
Der aktuelle Umgang mit intersexuellen Athletinnen, die natürlicherweise einen erhöhten Testosteronspiegel im Blut aufweisen, sei auch aus sportlicher Sicht schwierig, findet Patrick Diel von der Sportschule Köln: "Diese Personen betreiben ja kein bewusstes Doping, sie wurden so geboren. Die sind weiblich sozialisiert, haben hart trainiert und ihnen bedeutet der Sport sehr viel."
Problematisch sei auch, dass der Ausschluss aus der Frauenkategorie als öffentlich geäußerter Zweifel an ihrer Weiblichkeit verstanden würde, sagt Krämer: "Das muss man sich mal vorstellen: Man tritt in einem internationalen Sportevent mit vielen Millionen Zuschauenden an und plötzlich wird über die Presse konstatiert: Man sei keine Frau, sondern ein Mann."
Zum Teil werde so getan, als würde jemand vorsätzlich "falsch" antreten. Das Geschlecht öffentlich in Frage zu stellen könne äußerst verletzend und diskriminierend empfunden werden.
Lob für geschlechter-inklusive Haltung des IOC
Für dieses Dilemma - sportliche Fairness auf der einen und eine Inklusion von intergeschlechtlichen Menschen im Leistungssport auf der anderen Seite - gebe es keine schnelle Lösung, so der Soziologe von der Universität Münster. Erste Schritte in die richtige Richtung seien gemacht, zum Beispiel durch die Einführung von Mixed Teams bei den Olympischen Spielen.
Aber da müsse noch viel passieren, so Krämer: "Der Sport muss moderner werden. Und er muss auch über das Thema Intersexualität aufklären und die nach wie vor häufig schwierigen Lebenssituationen von intersexuellen Menschen aufklären." Doch der Sport sei auf dem richtigen Weg. "Der IOC Präsident Thomas Bach hat eine geschlechter-inklusive Haltung, die ich sehr schätze", so Krämer.
Boxerin Khelif wertet Debatte als Mobbing
Das IOC ließ Khelif in Paris starten, obwohl sie bei der WM 2023 nach nicht näher spezifizierten Geschlechtertests ausgeschlossen wurde. Diese führte der umstrittene Box-Weltverband IBA durch, der vom IOC nicht mehr anerkannt wird. Der IBA-Ausschluss sei eine "willkürliche Entscheidung ohne ordnungsgemäßes Verfahren" gewesen, so das IOC. Es begründet seine Entscheidung damit, dass Khelif als Frau geboren wurde, das weibliche Geschlecht im Pass stehen hat und seit Jahren im Frauenboxen antritt. Auch bei Olympia in Tokio vor drei Jahren war Khelif am Start, eine Debatte gab es damals nicht.
Die 25-Jährige selbst wertet die Debatte über ihre Weiblichkeit als "Mobbing" und dankte dem IOC dafür, dass es ihr "Gerechtigkeit gegeben" habe. Nach ihrem Olympiasieg sagte Khelif:
Ich will allen sagen, die gegen mich waren und eine Kampagne gegen mich gestartet haben: Das ist meine Antwort, ich bin eine starke Frau. Ich habe denen eine Antwort gegeben, und meine Antwort war eine Goldmedaille.