Weltweiter Tag des Stotterns Wenn die Worte im Mund stecken bleiben
Lange galt Stottern als eine psychische Erkrankung. Heute ist klar, es liegen neurologische Ursachen zugrunde. Heilbar ist Stottern nicht - eine Therapie kann aber helfen, flüssiger zu sprechen.
Ein Besuch im Café ist für die meisten Menschen nichts Besonderes. Die 18-jährige Selina Cinar muss sich jedoch für eine Kuchenbestellung genau konzentrieren, denn sie stottert. Die Worte, die sie sich überlegt hat, kommen ihr oft nicht einfach über die Lippen. Ihr geht es wie geschätzt rund 800.000 Menschen in Deutschland.
Typische Anzeichen für die Redeflussstörung sind schnelles Wiederholen von Lauten, Silben oder Wörtern. Auch verlängern Betroffene oft einzelne Laute, setzen Füllwörter ein und erleben lautlose oder hörbare Sprach-Blockaden. Hinzukommen können beim Stottern körperliche Begleiterscheinungen, die sich über die Jahre (weiter-)entwickeln, wie eine Anspannung der Gesichtsmuskulatur, bestimmte Körperbewegungen (zum Beispiel Mitbewegen der Hände, Augenkneifen) oder Veränderungen des Atemflusses.
Stottern im Alltag: Genervte und ungeduldige Reaktionen
Selina Cinar hat schon oft Situationen erlebt, in denen ihr Gegenüber mit Unverständnis auf ihr Stottern reagiert hat. So berichtet sie von einer Situation in ihrem Nebenjob im Verkauf, in der ein Kunde sie sehr unfreundlich behandelte: "Er war sehr ungeduldig, hat mir Befehle gegeben. Ich habe mich sehr unwohl gefühlt." In solchen Stresssituationen wird Selinas Stottern schlimmer, denn unter Druck fällt es ihr schwerer, erlernte Sprechtechniken anzuwenden.
Das Stottern trat bei Selina plötzlich auf, im Alter von fünf Jahren. Das ist typisch für das originäre neurogene nicht-syndromale Stottern, sagt Neurologe Martin Sommer. "Das klassische Stottern entsteht zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr. Glücklicherweise erleben die meisten Betroffenen eine Spontanheilung. Ungefähr 80 Prozent, also schon viele", so der Arzt und Wissenschaftler. Die restlichen 20 Prozent der Betroffenen würden ihr Leben lang stottern.
Keine psychische, sondern eine neurologische Störung
Mit dem weit verbreiteten Vorurteil, dass psychische Probleme der Grund für das Stottern sind, kann Neurologe Sommer auch dank vieler neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aufräumen: "Stottern ist eine Störung der Sprechmotorik und das war's. Es gibt vielleicht ein bisschen mehr Angsterkrankungen als bei Nichtstotternden, aber sonst gibt es außer der sprechmotorischen Störung nichts." Neben dem klassischen Stottern gibt es seltene Sonderformen, ausgelöst beispielsweise durch einen Schlaganfall oder eine geistige Behinderung wie Trisomie 21.
Die genauen Auslöser fürs Stottern sind bis heute unklar. Als sicher gilt jedoch: Es kann vererbbar sein und betrifft mehr Jungen als Mädchen. Neurologe Sommer forscht seit Jahren zu den Ursachen des Stotterns. Durch neuste MRT-Aufnahmen ist es ihm und seinem Team gelungen, erstmals die inneren Sprechorgane beim Stottern abzubilden. Darauf zu sehen ist, wie sich die Sprechmuskeln verkrampfen und Bewegungen sich wiederholen. Zudem zeigen MRT-Bilder, dass es auch in bestimmten Gehirnarealen auffällige Unterschiede gibt. Beides spricht für eine neurologisch bedingte Störung.
Was hilft beim Stottern?
Heilbar ist Stottern nicht. Eine logopädische Therapie kann Betroffenen jedoch helfen, im Alltag möglichst stotterfrei zu sprechen. Seit dem ersten Auftreten ist Selina Cinar darum in logopädischer Behandlung. In wöchentlichen Terminen hat sie mit verschiedenen Techniken gelernt, möglichst flüssig zu reden. "Früher, als ich ein Kind war, haben wir mehr mit Spielen gearbeitet, wie Memory oder Karten. Jetzt reden wir eher über das Problem oder die Technik", beschreibt sie die Therapiestunden.
Zu den zwei am häufigsten angewandten Therapiemethoden zählen das Fluency Shaping und die Stottermodifikation. Beim Fluency Shaping ist das Ziel, eine neue Sprechweise zu entwickeln, die das Stottern gänzlich vermeidet. Dafür werden alle Wortanfänge weich gesprochen und bewusst langgezogen.
Im Unterschied dazu verfolgt die Modifikation den Ansatz, die stotternde Sprechweise für sich anzunehmen und zu lernen, in auftretende Stotter-Phasen einzugreifen. "Im Fluency Shaping wird eine veränderte Sprechweise erlernt. Diese muss man immer einsetzen, um das Stottern zu verhindern. In der Stottermodifikation lässt man alles flüssige Sprechen stehen und bearbeitet nur das auftretende Stottern", beschreibt es Claudia Tasch, Logopädin und zertifizierte Stottertherapeutin. Wichtig sei es, früh mit einer Therapie zu beginnen, betont sie. Gerade Kinder würden die Sprech- und Atemtechniken leichter erlernen als Erwachsene.
Betroffenen zuhören und Raum geben
Über ihr Stottern offen zu sprechen, ist für Selina Cinar nicht leicht. Und trotzdem ist es ihr ein Anliegen: "Ich finde es sehr wichtig, darüber zu reden, weil es auch andere Menschen gibt, die sich das nicht trauen würden." Ihr größter Wunsch ist es darum, dass andere Menschen Betroffenen zuhören und sie aussprechen lassen, und zwar jeden auf seine Art und Weise.