Ein Kleinkind trinkt aus einem Fläschchen.

Studie zu Säuglingsernährung Immer weniger Kinder werden gestillt

Stand: 07.03.2023 14:41 Uhr

Noch nie wurden so viele Kinder mit Milchersatzprodukten versorgt wie heute. Ein Grund ist laut einer "Lancet"-Studienreihe die Marktmacht und Werbung von Konzernen.

Von Elena Weidt und Eyleen Schmitt, SWR

Weltweit werden weniger als die Hälfte der Säuglinge und Kleinkinder gemäß den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestillt. Das zeigt eine neue Lancet-Studie, an der auch die WHO beteiligt war: Die WHO empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen, also weder Wasser, Tee, noch Beikost oder Ergänzungsmilch zu geben. Bis zum zweiten Lebensjahr soll dann parallel zur Beikost weiter gestillt werden.

Dies hat viele Gründe. Einer davon, so sagt es die neue Studie, sei das aggressive Marketing der Hersteller von Säuglingsmilch. Weltweit liegt der Umsatz mit kommerziellen Muttermilch-Ersatzprodukten bei etwa 55 Milliarden Euro pro Jahr.

Hersteller werben für Ergänzungsmilch

Es gibt den sogenannten WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, der besagt, dass die Vermarktung so gestaltet werden soll, dass das Stillen geschützt bleibt. Man darf zum Beispiel nicht sagen, dass Pre-Milch besser ist als Stillen. Der Kodex ist jedoch freiwillig und die herstellenden Firmen finden ihre Lücken: Sie empfehlen dann zum Beispiel ihre Milchprodukte als Lösung, wenn ein Baby viel weint oder unruhig ist, wie in einer Lancet- Studie zu lesen ist.

Die Ersatzprodukte werden häufig auch mit mehrdeutigen und irreführenden Aussagen beworben wie "Kleinkinder benötigen dreimal mehr Calcium und siebenmal mehr Vitamin-D als Erwachsene pro Kilogramm Körpergewicht". Weiter heißt es bei diesem Hersteller, dass die Milch genau die Wachstumsbausteine liefere, die Kleinkinder in der wichtigen Entwicklungsphase bis drei Jahre benötigten.

Ein Baby wird gestillt.

Viele Mütter haben Probleme beim Stillen oder wollen es nicht.

Viele Mütter hören früh auf zu stillen

Die Zahlen in Deutschland zeigen: Mütter verließen zwar häufig stillend das Krankenhaus und bei der Geburt hätten auch fast 90 Prozent der Frauen die Absicht zu stillen - doch viele bleiben nicht dabei, sagt Hebamme Jule Heike Michel, Bundesbeauftragte für Stillen und Ernährung. Stillen zum Ende des vierten Monats etwa noch 40 Prozent, verbleiben Ende des sechsten Monats nur noch 13 Prozent der Frauen, die ausschließlich stillen. Deswegen gilt Deutschland auch nur als moderat stillfreundlich. "Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit auf Platz 21 und weltweit auf Platz 149 von 156 Ländern, was Stillraten angeht", erklärt Michel.

Muttermilch liefert nötige Nährstoffe

Eine der Besonderheiten der Muttermilch ist, dass sie auf das Kind zugeschnitten ist. Sie richtet sich nach dem Bedarf eines Kindes, sowohl in der Zusammensetzung als auch in der Menge.

"Die Formula-Milch geht von ganz anderen Grundlagen aus. Es handelt sich hier um Tiermilch, die an die Humanmilch angenähert wird. Die Humanmilch liefert die benötigten Nährstoffe. Diese können inzwischen sogar recht gut über Formula-Milch gegeben werden", erklärt Mathilde Kersting vom Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum. Was aber nicht künstlich nachgebaut werden kann, sind die in der Muttermilch enthaltenden Antikörper.

Muttermilch als Schutz gegen Infektionen

Diese Antikörper helfen dem Kind dabei, sich gegen Infektionen und Krankheiten zu schützen. Künstliche Säuglingsnahrung enthält solche Antikörper nicht, die Säuglinge können einem höheren Risiko für Infektionen und Krankheiten wie zum Beispiel Infekte der Atemwege oder Mittelohrentzündungen ausgesetzt sein.

Ersatzprodukte können sinnvoll sein

Richtig zubereitet können Ersatzprodukte heutzutage aber eine wichtige und notwendige Ergänzung sein: Wenn Frauen nicht stillen möchten oder können, wenn die Mutter beispielsweise aufgrund von gesundheitlichen Problemen oder Medikamenteneinnahmen keine Muttermilch produzieren kann: "Mit diesen Produkten, die wir heute haben, können Kinder sicher ernährt werden. Das ist schon ein Fortschritt", stellt Professorin Kersting klar.

Stillen kann zu Beginn schwierig sein

Viele Mütter haben zu Beginn Schwierigkeiten beim Anlegen des Babys, sie leiden unter Schmerzen oder Milchstau. Und nicht bei allen kommt die Milchproduktion direkt in Gang. Die volle Milchbildung setzt meist erst nach zwei bis drei Tagen ein. Es ist deshalb sehr wichtig, entsprechende Unterstützung zum Beispiel durch eine Hebamme zu bekommen.  

"Vor der Geburt müssen die Mütter aufgeklärt sein. Das Kind wird im Mutterleib kontinuierlich ernährt. Danach muss es von einem Tag auf den anderen aktiv episodisch ernährt werden", erklärt Kersting. Am Anfang müsse das Kind also rund um die Uhr gestillt werden. Das sei vielen jungen Eltern nicht klar. "Spätestens hier kommt den Geburtskliniken eine Schlüsselrolle zu, denn dort beginnt die praktische Stillanleitung."

Auch Hebamme Michel betont die Notwendigkeit entsprechender Aufklärung: "Wenn Frauen und Paare sich nach einem ausführlichen Informationsgespräch in der Schwangerschaft gegen das Stillen entscheiden, ist das aus meiner Sicht das Recht jeder werdenden Mutter oder Familie. Aber die wenigsten Frauen oder Familien erhalten im Rahmen der Mutterschaftsuntersuchungen eine solche Aufklärung, und nicht jede Schwangere sucht schon in der Schwangerschaft Kontakt zu einer Hebamme, die ein solches Aufklärungsgespräch führen könnte."

Herausforderung von Beruf und Stillen

Die Nicht-Vereinbarkeit von Stillen und der Berufstätigkeit ist ein weiterer Faktor, der es Müttern erschwert, ihre Babys längerfristig zu stillen. Viele Frauen kehren wenige Monate nach der Geburt an ihren Arbeitsplatz zurück und sind dadurch oftmals räumlich von ihren Babys getrennt. Häufig werden keine Einrichtungen am Arbeitsplatz bereitgestellt, um das Stillen oder Abpumpen von Milch zu erleichtern.

Arbeitgeber sind jedoch dazu verpflichtet, Mütter während der ersten zwölf Monate nach der Entbindung für die zum Stillen oder Abpumpen erforderliche Zeit freizustellen. Die bezahlte Stillzeit beinhaltet zweimal täglich eine halbe Stunde oder einmal täglich eine Stunde. Wenn der Arbeitsplatz keine Stillgelegenheit bietet, liegt die Stillzeit sogar bei 90 Minuten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR Wissen am 09. Februar 2023 um 17:05 Uhr.