Eine Frau mit den Händen vor dem Gesicht sitzt vor einem Bett.

Psychosomatik Was Menschen in die Erschöpfung treibt

Stand: 15.03.2024 11:24 Uhr

Psychische Erkrankungen sind der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen. Bei einem Kongress in Berlin werden derzeit die Auswirkungen der extremen Beschleunigung auf die Psyche diskutiert.

Von Anja Braun und Ralf Kölbel, SWR

Viele Menschen haben zunehmend das Gefühl, dass die Dinge aus den Fugen geraten. Und zwar rasend schnell. Mit der Frage, was die Menschen heute in die Erschöpfung treibt, beschäftigt sich in diesen Tagen der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie und des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM). Der gemeinsame Kongress der beiden Fachgesellschaften findet noch bis Freitag in Berlin statt.

Kongresspräsident Martin Teufel betont, wie stark diese teils extreme Beschleunigung unser Erleben prägt und auch für unsere psychische Gesundheit von großer Bedeutung ist: "Digitalisierung macht Dinge wirklich rapide und sehr schnell - das hat auch etwas sehr Motivierendes. Aber es ist auf der anderen Seite auch bedrohlich. Vor allem, wenn Menschen nicht mehr das Kontrollgefühl haben in ihrem Alltag."

Zahl psychischer Erkrankungen steigt

Mittlerweile sind psychische Erkrankungen der dritthäufigste Grund für Krankschreibungen, so die Auswertungen mehrerer Krankenkassen. Und bei reduzierter Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit sind die psychischen Erkrankungen mit 42 Prozent die wichtigste Ursache - laut der jüngsten Statistik der deutschen Rentenversicherung, berichtet Psychotherapeut Teufel. Jüngste Befragungen hätten gezeigt, wie ausgeprägt seelische Belastungen am Arbeitsplatz seien.

Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berichteten, es sei vorrangig der Zeitdruck, der sie belaste. Oft kämen dazu aber auch noch eigene hohe Ansprüche, denn man wolle ja auch gut sein im Job. "Heutzutage ist man ständig erreichbar und hat dadurch oft nicht mehr diese Ruhepausen, die ein Organismus so psychisch und körperlich braucht," so Teufel.

Gesellschaftliche Krisen erhöhen die Belastung

Für die hohe psychische Belastung vieler Menschen seien jedoch nicht nur die beschleunigten Arbeitsabläufe verantwortlich, sagt Psychotherapeut Teufel. Arbeit könne auch Halt geben und sei für viele Menschen ein stabiler Posten in ihrem Leben.

Eine starke Belastung gehe auch von den zahlreichen gesellschaftlichen Krisen aus, erklärt Stephan Herpertz, Präsident des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin: "Zu einem gesellschaftlichen und damit auch individuellen Stress kommt es immer dann, wenn wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden, die wir entweder nicht kennen oder denen gegenüber wir keine Resilienz haben oder drittens, salopp gesagt, die uns einfach umhauen."

Diese psychisch belastenden Krisen brechen zudem gefühlt immer schneller über uns herein. Mediziner Teufel beobachtet das auch als Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Essen: "Unsere Welt ist sehr viel schneller geworden. Wir fühlen uns bedroht", so Teufel. "Dinge geraten aus den Fugen und überall, wo die Psyche nicht einordnen kann, wie verhalte ich mich in diesem Kontrollverlust - da reagiert sie mit Stress, mit entsprechender Emotion, aber auch mit Körpersymptomen."

Wie kann man mit der Hilflosigkeit umgehen?

Doch was kann man tun? Wie das Kontrollgefühl wieder zurückgewinnen? Der Kongresspräsident und Psychotherapeut rät im Bezug auf Arbeitsplatz oder Arbeitsabläufe erst mal zu schauen, was man selbst beeinflussen kann: "Wo kann ich mit Vorgesetzten sprechen, mit Kollegen sprechen, damit irgendwie Dinge wieder kontrollierbarer erscheinen? Klappt es, dass ich nicht ständig erreichbar bin?"

Manches kann man als Einzelperson aber gar nicht beeinflussen. Vor allem wenn es um größere Krisen geht wie den Klimawandel oder auch um Kriegsgefahr.

Mitbestimmung für ein Kontrollgefühl

Therapeut Teufel sieht die Lösung darin, den Menschen wieder ein Kontrollgefühl zu geben. Das könne zumindest ansatzweise durch mehr Mitbestimmung im Arbeitsprozess erreicht werden. "Es geht aus meiner Sicht sehr darum, dass Menschen in die Lage kommen, mit der Situation umzugehen. Ich glaube, ein Arbeiter kann besser damit umgehen, wenn er so ein Gefühl hat: Hoppla, ich habe so eine kleine Mitbestimmungsmöglichkeit."

Angesichts des Beschleunigungsdruckes, aber auch der zahlreichen Krisen sei es enorm wichtig, das Gefühl zu haben: Ich selbst kann auch etwas gestalten und mitbestimmen.

Anja Braun, SWR, tagesschau, 15.03.2024 11:48 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR2 am 13. März 2024 um 16:05 Uhr.